Wer sich beeilt, friert.
(Sprichwort der Nomaden in der Mongolei)
Reisejahr 2013
Ulan Bator– Nomaden – Ulan Bator (In der Transmongolischen Eisenbahn) – China – Nordkorea – China
„Hast du schon ein Quartier? Weißt du, was du im Land unternehmen wirst?“, möchte mein Sitznachbar vor der Landung in Ulan Bator wissen. „Ich werde eine Woche bei Nomaden in der Steppe leben“, ist meine Antwort.
Am Flughafen werde ich bereits von Mogi erwartet, das Auto steht bereit und das einwöchige Nomadenleben beginnt.
Durch Löcher und tiefe Senken, vorbei an Weideland, Kühen und Pferden geht die Fahrt zu Nomaden, die an den kleinen Erdmuttersteinen leben. In einem Aimag-Zentrum (Provinzzentrum) halten wir zum Wassertanken an einem Haus. Ein Schlauch, der aus einem Fenster hängt, ist die Wasserleitung. Der anschließende Versuch, Benzin zu tanken, gestaltet sich dagegen schwieriger. Sprit gibt es erst an der dritten angesteuerten Zapfsäule.
Bei Ziegenhirten zu Hause
Nach sieben Stunden Fahrt halten wir vor zwei Jurten. In der einen lebt eine junge Familie mit ihren Kindern, in der anderen der Bruder des Hausherren und seine Mutter. Wir ziehen samt Kochgelegenheit bei Erdem dem Bruder ein, die Mutter bei der Familie.
Mein zu Hause für die nächsten drei Tage ist mit zwei Betten, einem Schrank neben der Tür und einer Kommode, auf der Ziegenfleisch trocknet ausgestattet. Die Gastgeber besitzen ausschließlich Schafe und Ziegen und leben seit zehn Jahren an den kleinen Erdmuttersteinen, auch im Winter.
Bis ich am nächsten Morgen ausgeschlafen habe, ist die Herde, die ich begleiten wollte, bereits auf Futtersuche zwischen den Felsen verschwunden. Wir folgen ihrer Spur und wandern durch das Granitgestein.
Am Abend ist die Herde zurück. Die Ziegen, die gemolken werden sollen, werden von den anderen getrennt und mit einem Strick so an den Hörnern zusammengebunden, dass sie Kopf an Hintern stehen. Zwei Ziegen versuche ich zu melken. Bis ich damit fertig bin, ist der Rest der Herde bereits gemolken. Erst jetzt dürfen die ungeduldig wartenden Zicklein trinken.
Die Nacht ist bitterkalt. Skiunterwäsche und Fleecepullover halten nicht warm. Erdem legt einen Deel (mongolischer Mantel) als zusätzliche Decke auf den Schlafsack. Bei den Nomaden heißt es: Wenn ein Gast friert, stirbt ein Tier.
Zum Frühstück gibt es Milchtee, Joghurt und Boortsog (einfaches Gebäck). Erdem möchte uns zu Felsmalereien aus der Bronzezeit bringen. Da er mit dem Moped fahren, wir jedoch laufen wollen, zeigt er uns die Richtung: „Ich hole euch ein.“ Er unterschätzt unser Tempo. Die Malereien und zwei Opferplätze finden wir trotzdem und ihn wenig später auch.
Bei unserer Rückkehr werden wir erwartet. Die Frauen laden uns zu Joghurt, Milchhaut und Gebäck in ihre Jurte ein. Der Fernseher läuft, die Kinder schauen gebannt auf den Bildschirm. Nicht lange. Der Vater kommt. Zicken und Lämmer müssen eingefangen und gemolken werden. Da muss jeder mit anfassen.
Während wir zum Abend Zöway (Nudeln) kochen, bringt die Gastmutter für mich Essen: Ziegenfleisch am Knochen, eine Kartoffel, zwei Scheiben Möhren und zwei Rollen aus Nudelteig. So wird aus dem Hauptgericht Zöway der Nachtisch und das Vorhaben, nach dem Essen ein wenig die Gegend zu erkunden, fällt einer plötzlichen Schläfrigkeit zum Opfer.
Poltern und lautes Rufen weckt uns. Ein Betrunkener ist gegen die Jurte getorkelt. Erdem springt aus dem Bett: „Schlaft weiter. Ich setze ihn aufs Moped und bringe ihn nach Hause. Das ist eine Selbstverständlichkeit.“
Derweil rutscht sein Bruder, der auch in der Jurte schläft, leise von seinem Bett zu Mogi auf die Matte. Nachdem sie ihn mehrmals energisch aufgefordert hat, sie in Ruhe zu lassen, legt er sich wieder auf seine Schlafstatt.
In der Mongolei ist das Verhalten des Bruders nichts ungewöhnliches. Aus Mangel an Möglichkeiten ist es eine Chance, eine Partnerin zu finden.
Nach vier Tagen reisen wir zu einer weiteren Nomadenfamilie ab. Zum Abschied gibt es ein besonderes Frühstück: Joghurt und Reis in Milchtee mit Fleisch. Mein Sättigungsgefühl stellt sich heute besonders schnell ein.
Im strömenden Regen fahren wir los. Unterwegs stoppen wir an einer in die Felsen gebauten Klosterruine. Im dazugehörigen Garten befinden sich heilige Plätze, die immer noch genutzt werden.
Der Regen wird stärker, die Pisten sind völlig aufgeweicht. Zum Vorwärtskommen muss der Fahrer sich in den Schlamm knien, um an der Vorderachse den Allradantrieb einstellen zu können.
Wir erreichen eine idyllisch in der Steppe stehende und von Bergen umgebene Jurte. „Wie heißt das Gebirge?“, möchte ich von Mogi wissen. „Der Name darf nicht ausgesprochen werden. Das bringt Unglück“, ist ihre Antwort.
Bei Pferdezüchtern zu Gast
In der geräumigen, komfortabel ausgestatteten Jurte werden wir mit Milchtee und Gebäck empfangen.
Wir sind bei Pferdezüchtern, die eine Wetterstation betreuen, zu Gast. Die Gelegenheit, ein Auto nutzen zu können, möchte sich Umay die Gastmutter nicht entgehen lassen: „Können wir zum Einkaufen in das Aimag-Zentrum fahren?“ Sie steckt ihr großes Telefon in die Tasche. „Mein Sohn hat das Handy mitgenommen und ich nehme eben das Telefon.“
Im Aimag-Zentrum ist alkoholfreier Tag. Trotzdem umkurven uns fünf betrunkene junge Männer. Erst in einem Café werden wir sie los. Es ist ein typisches Bistro. In dem mit Kunststoffmöbeln ausgestatteten kahlen Raum bekommen wir durch eine kleine Luke ein 3-in-1 Getränk (Kaffee, Milch und viel Zucker) geschoben.
Zurück an der Jurte ist unser Gastgeber Tenzin da. Sofort bekomme ich einen Deel. Umay und Mogi kochen zusammen, die Männer schauen kurz zu, dann fahren sie los, um Wasser zu holen. Nach dem Abendessen holt Umay chilenischen Rotwein und Schnapsgläser aus der Kommode. „Den haben Gäste mitgebracht“, sagt sie kopfschüttelnd. „Vielleicht magst du ja so etwas trinken“, wendet sie sich an mich.
Ein Auto, in dem drei Männer sitzen, hält vor der Tür. Zwei von ihnen steigen aus und werden sofort bewirtet. Sie erzählen, dass ein Zweig von einem Opferbaum abgebrochen ist, weil zu viele blaue Tücher daran hängen. „Furchtbar. Geld und blaue Tücher werden an diesen Stellen nicht gebraucht“, kommentiert Tenzin.
Im Gebirge gibt es Plätze, an denen Schamanen ihre Kunst ausüben. „Unser 16-jähriger Sohn erhält seit Kurzem eine Ausbildung zum Schamanen“, erzählt Umay ehrfurchtsvoll.
In der Abenddämmerung werden die Ziegen gemolken. Danach sollen die Jungtiere von den Alten getrennt werden. Mithilfe eines Uurga (Lasso) versucht Tenzin die Tiere zu fangen. Gegen 23 Uhr ist die Arbeit getan. Müde sinken wir ins Bett und auf die Matten.
Zwei Stunden später lassen laute Schreie alle erschreckt aufspringen. Die Tiere sind unruhig, Umay ruft ihnen ein paar Worte zu, wir schlafen weiter. Plötzlich sitzt der Fahrer unseres Autos ruckartig auf seiner Matte. Einer der schwarzen Käfer, die nachts ständig von der Decke fallen, ist in sein Ohr gekrabbelt. Der Käfer wird mit Wasser ausgespült, dann schlafen alle wieder.
Zum Frühstück gibt es eine neue, gewöhnungsbedürftige Kaffeevariation: Der Kaffee wird mit Milchtee aufgegossen. Nach der Mahlzeit werden die Ziegen gemolken und auch ich versuche es noch einmal, gebe aber nach dem dritten Versuch auf.
In der Zwischenzeit übt Tenzin ein Lied über Pferde für seine Ahnen ein. Die Familie hat ihre Tiere seit einem Monat nicht mehr gesehen. Sie weiden irgendwo und in ein paar Tagen will er sie holen.
Damit auch alle Pferde gesund gefunden werden, übt er das Lied. Es klingt sehr schön. Tenzin hat jedoch Sorge, dass es nicht gut genug ist und die Ahnen schimpfen werden.
Wir brechen zu einer Wanderung ins umliegende Gebirge auf. Die drei Männer, die am Vorabend in der Jurte zu Gast waren, sitzen unter einem Baum und bereiten sich ihr Mittagessen, das bei Nomaden beliebte Chorchog – auf heißen Steinen gegartes Fleisch – zu. Ohne zu zögern, putzen wir die Kartoffeln, wandern anschließend einen Berg hinauf, auf dem Kamm entlang und wieder zurück.
Die Männer sind noch da, das Menü ist fertig. So selbstverständlich wie das Kartoffelputzen ist auch die Einladung zum Essen. Ein kräftiger Schluck Wodka rundet das Mahl ab.
Nach einer kurzen Pause umrunden wir einen anderen, bei Schamanen sehr beliebten Gebirgsteil. Innerhalb einer Stunde besichtigen wir heilige Plätze, Grabhügel der Hunnen, Gräber aus der Bronzezeit und umrunden einen Stupa.
Umay hat das Abendessen gekocht. Wir wollen mit dem Essen auf Tenzin warten, der nachmittags losgeritten ist, um die Pferde zu holen. Sie wehrt ab: „Esst, keiner weiß, wann er kommt.“
Gegen 22 Uhr kommt Tenzin gut gelaunt und will reden. Seine Frau schläft bereits und auch wir liegen müde auf den Matten. Das stört ihn nicht: „Erzähle mir von dem Pferdezüchter vom Ogi Nuur, bei dem du 2006 warst.“
Ein Tag in Ulan Bator
Am Morgen geht es zurück in die Hauptstadt. Mein Magen streikt. Die Pisten tun ihr Übriges. In immer kürzer werdenden Abständen müssen wir anhalten. Der Fahrer versucht zu helfen und zündet ein Stück Pferdemist an. Ich atme den Rauch ein; es hilft tatsächlich.
In Ulan Bator ziehe ich mich trotzdem nur kurz in das Hotel zurück. Am nächsten Tag fährt mein Zug nach Peking und ich möchte noch in die Innenstadt. Der Bahnhof mit dem Taxistand ist gleich um die Ecke. Ein Fahrer zeigt mir ein Heft, in dem alle Sehenswürdigkeiten in englischer Sprache aufgeführt sind. Ich tippe auf den Süchbataar-Platz. Wir fahren dorthin und als klar ist, dass es das richtige Ziel ist, freut sich der Fahrer.
Für die Rückfahrt finde ich kein Taxi. Auf der Suche nach der richtigen Bushaltestelle begleitet mich ein Mongole. Es dauert, bis der Bus kommt. Das ist meinem Gesicht wohl anzusehen. Der Mongole lächelt: „In Deutschland hat nichts Zeit. In der Mongolei hat alles Zeit.“
Am nächsten Morgen steige ich ein in den Zug nach Peking.