Viele Wege führen von Teheran nach Rasht. Der mit dem wenigsten Zeitaufwand ist eine Fahrt mit dem Bus. Ich habe mich indes der Landschaft wegen für eine Fahrt mit dem Zug und damit verbunden einen Umweg über Sari entschieden.
Die Bahn ist ein in die Jahre gekommener Zug mit gemütlichen Abteilwagen. Die Sitze sind bequem, eisgekühlte 0,5 l Wasserflaschen stehen in den Abteilen bereit.
Als der Zug abfährt, sind wir vier Frauen und ein Kind im Abteil. Die Frauen sind schnell im Gespräch. Immer wieder sehen sie zu mir herüber. „Farsi?“ Ich schüttele den Kopf.
Etwas scheint sie jedoch schwer zu beschäftigen. Eine der Frauen tippt mich an und klopft sich leicht auf ihre Wange:
„Creme?“ Ich nicke.
„Mark?“ Ich nenne eine Marke, von der ich weiß, dass es sie überall auf der Welt gibt.
Zufrieden darüber, eine Antwort auf die wichtigste Frage erhalten zu haben, unterhalten sie sich weiter.
Ich stelle mich in den Gang, um zu fotografieren. Ein junger Mann fragt mich auf Englisch, ob im Abteil nur Farsi gesprochen wird. Ich antworte ihm ja, aber das sei kein Problem. Verstimmt schlussfolgert er, dass ich wohl keinen Wert auf Gespräche lege und geht. Verdutzt sehe ich ihm hinterher.
Derweil werden im Abteil geröstete Sonnenblumenkerne verteilt. Ich bekomme eine Handvoll. In einem Schnellkurs lerne ich das elegante Essen von gerösteten Sonnenblumenkernen, was für viel Heiterkeit sorgt.
Ich fotografiere weiter. Eine junge Frau mit traurig blickenden Augen kommt auf mich zu. Sie studiert englische Sprache. Als die Frauen aus dem Abteil mitbekommen, dass wir uns unterhalten, wird sie mit Fragen, die sie mir stellen soll, überschüttet.
Zaara die Traurige, stellt fröhliche Fragen. Meine Gefühle fahren zwischen den vergnügten, lachenden Frauen und der niedergeschlagenen Zaara, Achterbahn.
Der Zug fährt bereits seit einer Stunde – Zeit für einen Snack. Die Frauen packen ihren Proviant aus. Mir werden Brot und Käse gebracht.
Zaara erzählt von sich. Mit fünf Jahren hat sie ihre Eltern verloren. Ihr Onkel hat sie und ihre fünf Geschwister in seine Familie aufgenommen. Obwohl sie neun Kinder waren, hatte sie eine glückliche Kindheit – bis zur Pubertät. Dann musste sie auch zu Hause den Hijab und lange Kleidung tragen. Aus ihrer Trauer wurden Depressionen.
Sie möchte viel über das Leben junger Leute in Deutschland wissen. Die Tränen stehen in ihren Augen. „Es ist so hart für mich zu hören, wie viel leichter man sein Leben gestalten kann.“
Müde vom Stehen fragt sie, ob sie sich mit in mein Abteil setzen darf. Sie holt ihr Lunchpaket. Daraufhin packen alle ihren Proviant aus. Jeder bekommt von jedem etwas.
Die Stimmung im Abteil ist andauernd laut und fröhlich. Leise geht Zaara.
Eine der Frauen nimmt ihr Kopftuch ab und zieht ihren Mantel aus. Die Zweite macht es ihr nach. Die Dritte bekommt von ihrer Tochter das Kopftuch herunter gezogen. Schnell zieht sie es wieder über. Die anderen protestieren. Sie legt ihr Kopftuch ab. Die Stimmung wird immer ausgelassener.
Badelatschen werden ausgepackt, die Sitze ausgezogen und die drei legen sich hin. Die Molligste spielt selbstironisch mit ihren Polstern, die anderen beiden zeigen lachend ihre.
„Zieh auch deinen Mantel aus“ werde ich aufgefordert. „Nein, ich möchte draußen fotografieren“antworte ich. Lachend vermuten die drei, dass es bei mir sowieso nichts zu sehen gibt.
Zaara kommt wieder. Sie erzählt über ihren Glauben und wie wichtig er für sie ist. Den Koran hat sie gelesen, um einen Weg aus ihrer Traurigkeit zu finden.
Ich sage, dass ich an keinen Gott glaube. Ein unvorstellbarer Gedanke. Trotzdem interessiert sie sich sehr dafür, wie ich damit leben kann. „Vielleicht gibt es einen Kompromiss für mich.“
Unsere Unterhaltung wechselt zum alltäglichen Leben. Gerne würde sie heiraten und eine Familie haben. Aber sie hat kein Geld und auch nicht die Erlaubnis ihres Bruders. „Es ist so bitter für mich, meine Möglichkeiten zu sehen und dir zuzuhören.“
Zaara geht in ihr Abteil zurück. Hin und hergerissen zwischen der lauten Leichtigkeit im Abteil und der leisen Nachdenklichkeit im Gang, zwischen Lachen und Traurigkeit, tiefster Betroffenheit und beeindruckt sein von der Mühelosigkeit, mit der Verhaltensregeln gebrochen werden, laufe ich durch die Wagen.
Der Zug hält zu einem Gebetsstopp. Zaara ist wieder da. Ihre Tante hat mich in ihr Haus eingeladen. Mir ist zum Weinen zumute. Ich will nicht ihre Freude darüber kaputtmachen, werde jedoch in Rasht erwartet. Ein kurzer enttäuschter Blick. „Wenn du verabredet bist.“
Sie telefoniert mit ihrer Tante. „Komm, bis der Bus fährt, zum Tee zu uns.“ Die Einladung nehme ich sehr gerne an. Zaraa lächelt. Ein Cousin holt uns vom Bahnhof ab. Bei einem Abstecher zum Busbahnhof kaufe ich ein Ticket nach Rasht. Es bleiben 75 Minuten Zeit für den Tee.
Bei Tee und Melone bleibt es jedoch nicht. Zaaras Tante hält an ihrer Einladung zum Dinner fest. Ich habe die Wahl und entscheide mich für Brot, Fisch und Gemüse. Tatsächlich essen wir noch in Ruhe.
Um 18 Uhr soll der Bus abfahren. Um 17.45 telefoniert die Tante nach einem Taxi. Vor der Tür hält eine Freundin mit Tochter. Es ist 17.58 Uhr.
Fünf Frauen in einem Auto – eine fröhliche Runde. Im Stakkato fragt die Freundin Zaraa und ihre Tante über mich aus. Es wird gelacht und gescherzt. Nun lächelt auch Zaara.
Um 18.10 Uhr sind wir am Busbahnhof. Im Iran ist das genügend Zeit, um einzusteigen.