Regen, Wind und Kälte sind das richtige Wetter für einen Ausflug in das 135 Kilometer von Kiew entfernte Tschernobyl. Das triste Grau und der im Auto gezeigte Dokumentarfilm über die Nuklearkatastrophe von 1986 bringen die richtige Einstimmung.
Am Checkpoint zur 30-Kilometer-Sperrzone heißt es warten. Die Administration von Tschernobyl hat das Programm verlegt und ein neues muss erstellt und abgesprochen werden. Überraschenderweise dauert es nur eine halbe Stunde.
Das Auto fährt auf den Parkplatz eines kleinen Hotels, in dem auch Übernachtungen angeboten werden. Der erste Spaziergang: Wir laufen durch einen Park, dessen Hauptweg von Kreuzen gesäumt ist, auf denen die Namen der Menschen stehen, die an den Folgen des Reaktorunglücks gestorben sind. Auf der grünen Wiese stehen Skulpturen, ein Denkmal erinnert an das Unglück. Wie alle zugänglichen Denkmäler in der Sperrzone ist es gepflegt.
An der Straße stehen kleine verfallende Einfamilienhäuser, die kaum noch im Grün zu erkennen sind, und Plattenbauten, die teilweise wieder bewohnt werden, jedoch genauso verfallen aussehen wie die unbewohnten Häuser. Wer hier wohnt, wird mittlerweile im Durchschnitt 80 Jahre alt; Luft und Boden sind sauber; grüne Wälder, in die Wildschweine, Wölfe, Rehe und Biber zurückgekehrt sind, umgeben das Gebiet. Gejagt werden dürfen sie aber nicht. Lebensmittel werden von außerhalb der 30-Kilometer-Sperrzone herbeigeholt.
Das Auto hält an einem Überhorizontradar, das Teil des sowjetischen Raketenabwehrsystems war. Rund 50 Großantennen mit einer Höhe bis zu 150 Metern und jeweils 44 daran befestigten Metallbojen, ragen in den Himmel. Dazwischen klemmen Tausende Sendedrähte mit einer Reichweite bis zu 9000 Kilometern.
Früher wohnten 2.000 Menschen neben der Radaranlage. In erster Linie waren es Bau-Ingenieure, Wissenschaftler und Militärs, die die Daten auswerteten. Ihr Dorf Kopatschi ist einer der Orte, der wegen der enorm hohen Strahlenbelastung abgetragen wurde. Baumaterial und das Inventar der Häuser wurden in ein atomares Zwischenlager gebracht. Nur die Radaranlage blieb unangetastet.
Wir erreichen den Kontrollpunkt zur 10-Kilometer-Sperrzone. Hinter einem Denkmal, verborgen im dichten Gestrüpp, steht ein Kindergarten. Unter der Dachrinne am Eingang des Hauses steigen die Messwerte auf dem Dosimeter. Wir durchstreifen die Räume, in denen Spielzeug auf den Regalen steht, Kuscheltiere auf matratzenlosen Doppelstockbetten sitzen und hier und da ein Kinderschuh liegt.
Auf einem Kolonnenweg geht die Fahrt Richtung AKW weiter. Im Nichts steigen wir aus. Hier stand der „Rote Wald“, ein Nadelwald, in dem sich die Strahlenschäden in einer Gelbfärbung der Nadeln bemerkbar machten, die daraufhin abfielen. Die nadellosen Baumstämme gaben dem Wald den Namen „Roter Wald“. Das Dosimeter zeigt stetig steigende Werte an, schnell setzen wir uns wieder in das Auto.
Die nie fertiggestellten Reaktoren 5 und 6 sind zu sehen. Auf der anderen Seite des Kühlwasserkanals leuchtet das größte bewegliche Gebäude der Welt herüber: das „New Safe Confinement“, der Sarkophag für den Sarkophag: 257 Meter breit, 150 Meter lang, 29.000 Tonnen schwer. Der havarierte Reaktor 4 steht klein und rostig davor.
Wir steigen aus. Im Kühlwasserkanal tummeln sich riesige Welse, die träge nach den Keksen schnappen, mit denen wir sie füttern: ein Anglerparadies in friedlich wirkender Szenerie.
Weiter geht es nach Prypjat, die Geisterstadt, die einst 49.000 Einwohner zählte. Stille umgibt uns. Das Grün hat sich die Stadt zurückerobert. Nur die obersten Etagen der 9 bis 11-geschossigen Plattenbauten lugen über die Bäume hinaus. Von der maroden Tribüne des Stadions aus sind der mit Wald bedeckte Fußballplatz und die ebenfalls bewachsene Laufbahn im Stadion gut überschaubar.
Dass die Pfade, auf denen wir spazieren, einst Straßen waren, lässt sich nur noch erahnen. Wir werfen einen Blick ins Schwimmbad, in einen Klassenraum voller Gasmasken und einem deutschsprachigen Kinderbuch auf dem Tisch; im Kino fordert ein Plakat zum Lernen, lernen und nochmals lernen auf; im Kulturpalast mit seinen teilweise zerbrochenen bunten Glasfenstern knirschen die Splitter unter den Schuhen.
Der Spaziergang geht weiter über einen Rummelplatz hinunter zum Fluss Prypjat. Riesenrad, Autoscooter, Schiffsschaukel grüßen als ironisch wirkendes Überbleibsel aus dem Alltagsleben. Am Fluss schimmert eine Bootsanlegestelle durch die Wasseroberfläche, ein Glas steht ordentlich in einem Getränkeautomaten.
Auf dem Weg zurück nach Tschernobyl fahren wir noch einmal am Reaktor 4 vorbei. Auf der Baustelle der neuen Schutzhülle ist Schichtwechsel. Zeit für ein letztes Foto vom Unglücksreaktor.
Nach einem späten Mittagsmahl in der Kantine des Hotels in Tschernobyl, bestehend aus Pilzsuppe, fettigen Bratkartoffeln und Steak sowie einem Stopp an den Kontrollstellen, bei denen jeder eine Strahlenkontrolle durchlaufen muss, geht es zurück nach Kiew.