Der Bus aus Peking hält in einem Dorf, das im Jiankou-Abschnitt der Großen Mauer liegt. Von der Haltestelle führt eine staubige Straße zum Fuß des Gebirges, durch das sich der Schutzwall wie ein geschuppter Drache aus weißem Dolomitgestein von Gipfel zu Gipfel windet.
Durch Gestrüpp und Wald führt der Weg aufwärts, bis er vor der acht Meter hohen Mauer endet. Rechter Hand ist eine Lücke. Sie ist die einzige Möglichkeit, um hinauf zu klettern.
Vorsichtig taste ich nach Mulden im Gestein, um mich langsam an der Wand hochzuziehen. Unter meinen Füßen geht es sechs Meter senkrecht in die Tiefe.
Oberhalb eines Überhangs steht ein schmaler Baumstamm. Alle Armkraft zusammennehmend greife ich nach dem Stamm, bekomme ihn zu fassen, ziehe mich über den Felsvorsprung und stehe auf der Grossen Mauer.
Der Blick über die Berge ist fantastisch. Das weithin sichtbare Bollwerk schlängelt sich über Bergrücken und durch das Grün der Landschaft. An vielen Stellen überwuchern Pflanzen die Steine. Da das Innere der zwei begrenzenden Außenmauern mit Lehm, Sand und Schotter aufgefüllt wurde, haben sie genügend Boden zum Wachsen. Peter, der Guide, wirft einen Stein. Es dauert, bis sein Aufschlag zu hören ist.
Im Abstand von einigen Hundert Metern stehen ungefähr 12 Meter hohe Türme, die als Waffenlager und Beobachtungsplätze dienten. Der Wachturm eines Kommandeurs ist deutlich von dem der Soldaten zu unterscheiden: Die Decken sind höher, die Steine glatt geschliffen.
Durch eine Fensterhöhle schweift der Blick auf das endlose helle Band, aus dem die Türme wie kaputte Zähne ragen. Es führt uns abwärts und mit Händen und Füßen aufwärts. Nach einer Stunde endet die Probewanderung und wir beziehen im Gästehaus eines Farmers ein Zimmer mit Dusche. Zur Stärkung gibt es ein reichhaltiges Abendbrot aus eigenem Anbau.
Um 2:30 Uhr klopft Peter an die Tür. In der Stube des Farmers wartet bereits ein üppiges Frühstück. Mit vollem Magen und einem mit Sternen übersäten Himmel über uns stolpern wir schnellen Schrittes Peter hinterher. Zu Beginn der Dämmerung kommen wir an der Mauer an.
Zu meiner Erleichterung lehnt eine Leiter senkrecht an der Wand. Kurz darauf stehen wir in der Nähe eines Wachturms auf dem Wehrgang. Im Turm führt eine halb verfallene Treppe zur Plattform hinauf. Dort oben warten wir fröstelnd auf den Sonnenaufgang.
Unversehens schnellt die Sonne hinter den Bergen hoch und taucht die Umgebung in ein eigentümliches Licht.
Wir machen uns auf den Weg in den zehn Kilometer entfernten, renovierten Mutianyu-Abschnitt. Der Weg ist eine Achterbahn. Stufen, die in den Himmel steigen und auf denen kaum Halt zu finden ist, in die Tiefe fallende Wege, auf denen wir uns von Zinne zu Schießscharte hangeln, die nur eine Armlänge voneinander entfernt sind.
Steil geht es aufwärts zum „Wachturm des hochfliegenden Adlers“, der auf dem höchsten Teil von Jiankou erbaut wurde. Weil Pflanzen ein undurchdringliches Gestrüpp bilden, balancieren wir auf dem Gesims und blicken auf besonders eindrucksvolle Teile der Mauer wie den Pekingknoten, an dem drei verschiedene Abschnitte zusammenlaufen.
Nach gut drei Stunden wandern entdecken wir von einem Wachturm aus eine rote Fahne. Dort beginnt der sanierte Teil der Mauer, der nach Mutianyu führt.
Es ist früh am Tag und so ist dieser touristische Teil des Bauwerks, der hier aus Granit besteht, menschenleer. Steil führen Treppen nach unten und wieder nach oben. Von den rekonstruierten Wachtürmen geht der Blick weit ins Land. Die ersten fliegenden Händler bauen ihre Stände auf. Touristen kommen, schnell wird es voll und laut. Wir beenden die Tour und steigen im Dorf in den Bus nach Peking.