Eine Nacht der Anarchie schadet mehr als hundert Jahre Tyrannei.
(Sprichwort aus dem Irak)
Reisejahr 2022
Bagdad – Babylon – Kerbela – Nadschaf – Basra – Marschland Al-Ahwar – Bagdad – Samarra – Mossul – Autonome Region Kurdistan
Sand wirbelt durch die Gepäckhalle im Flughafen von Bagdad und legt sich auf die Rucksäcke. Als wir das Terminal verlassen, sehen wir aus wie Reisende, die von einer Wüstentour kommen. Ein Shuttle soll uns zu einem Checkpoint bringen, an dem wir bereits von unserem Begleiter Faiz und dem Fahrer Hussein erwartet werden. Eine Abholung am Flughafen ist seit dem tödlichen Attentat auf den iranischen Offizier Qasem Soleimani im Januar 2020 durch eine Drohne des US-Militärs nicht mehr möglich.
Nirgendwo gibt es einen Hinweis auf den Zubringer. Englisch spricht auch niemand und so suchen wir eine Weile das Fahrzeug. Es dauert, bis wir jemanden finden, der Auskunft geben kann: „Der Shuttle fährt nur, wenn er voll besetzt ist und ist bereits abgefahren. Ihr seid sehr spät gekommen und müsst warten, bis der nächste Flieger landet. Das wird in zwei Stunden sein.“ Ein Taxifahrer, der das Gespräch mitbekommen hat, tritt an uns heran: „Für 30 USD fahre ich euch die fünf Kilometer. Es ist ein Festpreis.“ Wir schlucken, haben aber keine Lust, noch länger im Sandsturm zu warten.
Bagdad – mehr Mogadischu als Damaskus
Es ist früh am Morgen und nachdem wir für eine anderthalbstündige Pause im Hotel abgesetzt wurden, beginnt der Sightseeing-Tag. Die Stadt wirkt durch die vielen Checkpoints und MG-Nester wie ein Hochsicherheitstrakt im Ausnahmezustand. Die Weltuntergangsstimmung wird durch das trübe Wetter, die staubige Luft und die trostlosen Häuserfassaden noch verstärkt. Einem Vergleich mit dem lebendigen, bunten Damaskus und dem ebenfalls gut gesicherten, dennoch lebhafteren Mogadischu kann die City jedenfalls nicht standhalten.
Eine Wohltat für die Augen ist das türkisfarben aus dem Dunst leuchtende Denkmal für die Märtyrer. Ehe wir jedoch das Gelände betreten können, müssen wir an zwei Kontrollstellen die dafür geforderte Sondererlaubnis der Polizei und die Pässe vorzeigen.
Am Ende einer von Nationalfahnen flankierten Allee erhebt sich eine türkisfarbene, in zwei Hälften gespaltene Kuppel in den Himmel. In ihrer Mitte steht ein verdrehter Metallfahnenmast, an dessen Stange eine irakische Flagge, die anscheinend leicht im Wind flattert, hängt. Die unterirdisch gelegenen Räumlichkeiten – Museum, Bibliothek, Cafeteria – haben geschlossen.
Die Kuppelhälften sind so gebaut, dass sie beim Umrunden eine visuelle Illusion erzeugen. Aus einigen Perspektiven betrachtet erscheinen sie als eine Kuppel, aus anderen wiederum als geteilte Kuppel in unterschiedlicher Größe.
Das von Saddam Hussein in Auftrag gegebene Denkmal war ursprünglich den rund eine Million Irakern, die während des achtjährigen Krieges mit dem Iran (1980 bis 1988) getötet wurden, gewidmet. Heute ist es ein Mahnmal für die Opfer von Saddams Regime.
Das Monument ist eines von drei Ehrenmalen, die Saddam bauen ließ, um an den Irak-Iran-Krieg zu erinnern. Gerne hätten wir auch die beiden anderen – das Denkmal für den unbekannten Soldaten und den Siegesbogen – besucht, aber sie stehen in der sogenannten Grünen Zone, in der sich die Regierungsgebäude und die US-Botschaft befinden und ein Permit zum Betreten des Areals war nicht zu bekommen.
Hussein fährt bis an die stacheldrahtbewehrte Betonmauer, die die Sperrzone umgibt. Immerhin können wir so einen etwas verstellten Blick auf den Siegesbogen (Schwerter von Qadisiyah) werfen. Die zu einem Bogen gekreuzten Schwerter, die von Saddams Händen gehalten werden, sollen den Sieg im Iran-Irak-Krieg verkünden.
Ein Abstecher ins antike Ktesiphon
Wir machen einen Abstecher zum außerhalb von Bagdad liegenden antiken Ktesiphon. Alle fünf Minuten passieren wir nun einen Checkpoint und müssen oft die Pässe zeigen. Plötzlich haben wir ein Fahrzeug der Polizei als Eskorte. „Sie sichern die Straße für uns“, erklärt Faiz.
An das antike Ktesiphon erinnert nur noch der größte aus Ziegelsteinen gebaute Bogen der Welt. Majestätisch und allein steht das Bauwerk in der trockenen, staubigen Landschaft. Ein Gerüst stützt die 1400 Jahre alte Wölbung und wegen der Restaurierungsarbeiten und der angeblichen Unfallgefahr können wir das Gelände nicht betreten. Da ist auch der Offizier vom Begleitfahrzeug keine Hilfe.
Das durch trockenes Brachland vom Bogen getrennte, jedoch in Sichtweite stehende Haus mit dem ehemaligen Panorama von Qadisiyah dürfen wir hingegen besichtigen. Das Gebäude ist eine Ruine. Böden und Decken bröckeln, Kabel hängen in der Luft. Über Schutthaufen und eine bröselnde Treppe klettern wir in dem baufälligen und ungesicherten Gebäude auf die Dachterrasse. Während wir über die Stadt sehen, schwärmt Faiz von dem Rundbild, bei dem Nordkoreaner auf einer 1500 Quadratmeter großen Fläche die Schlacht von Qadisiya gemalt hatten und von dem heute nichts mehr zu erkennen ist: „Alles wirkte so echt, die Tiere, die Farben.“
Die Hitze und der Ramadan geben den Rhythmus der Reise vor. „Ihr macht jetzt vier Stunden Pause im Hotel und dann starten wir noch einmal“, meint Faiz. Wir übernehmen das Modell sehr gerne und kommen so während der Tour regelmäßig zu einer erholsamen Mittagspause.
Bagdad am Nachmittag
Auf der nachmittäglichen Fahrt durch Bagdad erzählt Faiz über das Leben seit dem Bürgerkrieg. „Unter der jetzigen Regierung sind die Probleme die gleichen wie unter Saddam Hussein. Wir kämpfen weiter im Alltag mit Korruption, Misswirtschaft und einer überbordenden Bürokratie.“
Im Oktober 2019 mündete der Frust über die politische und religiöse Elite in landesweiten Protesten. Zentrum des Aufstandes in Bagdad war der Tahrir-Platz. Auf dem Gelände und am Freiheitsdenkmal steht ein Großaufgebot an Polizei und beobachtet Verkehr und Fußgänger.
Ein Teil der Straße geht unter dem Platz hindurch. Demonstranten haben die Wände der Unterführung mit politischen Graffiti bemalt. Sicherheitshalber fragen wir bei der Polizei nach, ob wir die Bilder aufnehmen dürfen. „Wo kommt ihr her?“, ist die Gegenfrage. „Aus Deutschland.“ Wir dürfen fotografieren.
Am Nachmittag kommen wir noch einmal am Tahrir-Platz vorbei. Weit und breit ist kein Polizist mehr zu sehen. Faiz blickt auf seine Uhr: „Sie werden essen gegangen sein.“ Tatsächlich stehen alle Polizisten an einem Lieferwagen und lassen sich Assietten geben. Auch wir haben mittlerweile Hunger und fahren zum Abendessen in ein Restaurant am Tigris. Dort wird die irakische Spezialität Masgouf – ein Fischbarbecue – serviert.
Im Restaurantgarten sind bereits einige Tische besetzt. Es wird gegessen und erzählt. Kaum stehen die obligatorischen Vorspeisen auf dem Tisch, fangen auch wir sofort zu essen an. Nur Hussein sitzt still vor den vollen Tellern. Derweil läuft auf Faiz seinem Handy leise das Gebet zum Fastenbrechen. Als es beendet ist, fängt auch Hussein an, kräftig zuzulangen.
Nach Süden
Am nächsten Morgen brechen wir auf nach Babylon. Im Auto sind reichlich Wasser und Snacks vorhanden, sodass wir den Fastenstunden gelassen entgegensehen.
Aus der Stadt herauszukommen ist nicht so einfach. Noch mehr Polizei ist auf den Straßen unterwegs. Studenten demonstrieren gegen die Perspektivlosigkeit, die sie nach dem Studium erwartet. Viele finden keine Jobs oder mit viel Glück einen Posten mit sehr geringem Einkommen. Vor dem Märtyrerbüro stehen ebenfalls Polizeieinheiten und gepanzerte Fahrzeuge. An einer mit Wasserwerfern und Militär gesicherten Brückenauffahrt wird Hussein gestoppt. Uns fehlt das Permit zum Befahren der Brücke und er muss sich einen anderen Weg aus der Stadt suchen.
Palmen und kleine Dörfer stehen in der weiten, staubbedeckten Ebene. Auf Strommasten nisten Störche; Toyotas mit aufmontiertem Maschinengewehr stehen unter Schutzplanen, die Besatzung beobachtet die Straße.
Hussein fährt an eine Tankstelle. Als ich aussteige, strahlt der Tankwart über das ganze Gesicht. „Er freut sich dich zu sehen. Das bedeutet, das Land erholt sich und hat eine Zukunft“, erklärt Faiz und sieht mich lachend an.
Babylon – antike Weltstadt am Euphrat
Babylon ist vor allem bekannt für seine Hängenden Gärten, den „Turmbau zu Babel“ und das Ischtar-Tor. Durch den zweieinhalb Meter kleineren Nachbau des Tores – das Original steht im Pergamonmuseum in Berlin – betreten wir die Überreste der Stadt. Obwohl Babylons Bedeutung als Großmacht in Mesopotamien bereits im Jahr 539 v. Chr. endete, erwarten uns unversehrte Mauern und lehmfarbene Gebäude. Saddam Hussein hatte 1979 – zum Leidwesen von Archäologen – den Wiederaufbau von Teilen des riesigen Areals befohlen. Bis zu seinem Tod wurde unter anderem der Palast von Nebukadnezar II. rekonstruiert, so wie er um 600 v. Chr. mit seinen 600 Räumen ausgesehen haben könnte. Ganz in der Tradition von König Nebukadnezar II. ließ Saddam auch in einen Teil der Steine seinen Namen eingravieren.
Für die Vorstellungskraft ist der Wiederaufbau jedenfalls von Vorteil. Spannend ist der Bummel durch das Labyrinth der alten Palastmauern. Im Thronsaal haben wir bildlich den Tod Alexander des Großen vor Augen und nebenbei bekommen wir auch noch einen Eindruck von der Akustik, die in den Räumen herrschte.
Große Schäden an den Ruinen entstanden ein weiteres Mal, als 2003 die USA und ihre „Koalition der Willigen“ in den Irak einmarschierten, um Saddam Hussein zu stürzen. US-Truppen und später auch das polnische Militär bauten Zeltstädte, Hubschrauberlandeplatz und Parkplätze, befestigte Straßen und füllte unzählige Sandsäcke mit Ausgrabungsmaterial. Aus den Vorgängerbauten des Ischtar-Tores wurden teilweise die Tiermotive herausgebrochen und das Mauerwerk bekritzelt.
„Seht ihr die Beschädigungen?“, der Tourguide zeigt auf ein Fabelwesen, dem der Kopf fehlt. „Ich habe versucht, den Soldaten zu erklären, dass sie unsere Geschichte zerstören. Dafür wurde ich verhaftet und misshandelt.“
Über den Ruinen thront auf einem Hügel einer der über 80 Paläste, die Saddam Hussein im Land hatte bauen lassen. In jedem dieser Prachtbauten wurden täglich drei Mahlzeiten zubereitet, da niemand wusste, wo Saddam die Nacht verbringen würde. Diesen Palast, dessen Bau vier Jahre dauerte, soll er nur einmal besucht haben.
Zwischen Olivenbäumen und Palmen geht es hinauf zum Gebäude mit der hellen Fassade aus Sandstein. Reliefs an den Außenmauern zeigen Saddam als Helden des Volkes, seine Initialen verzieren die Wände und zeugen von seinem größenwahnsinnigen Leben und seiner Selbstverliebtheit.
Der von außen gut erhaltene Palast ist im Innern bis auf die sehr schönen Decken aus Dattelpalmenholz und ein paar Lüster geplündert worden. Dunkle Korridore verbinden Saddams Schlafzimmer, Küche, Wohn- und Empfangsräume, die übersät sind mit Scherben der prächtigen Kronleuchter. Durch glaslose Panoramafenster schweift der Blick über Babylon und den Euphrat.
Auch das US-Militär hat sich hier verewigt. Die Treppenaufgänge sind mit NATO-Draht versperrt, die Wände mit Zeichnungen und Notizen beschmiert.
Kerbela – heiligste Stadt der Schiiten
„Kerbela ist besonders für Schiiten die heiligste Stadt der Muslime. Imam Hussein und sein Bruder Imam Abbas, beides Söhne von Imam Ali, dem ersten der zwölf Imame, sind dort begraben“, stimmt uns Faiz während der Fahrt durch die landwirtschaftlich genutzte Gegend auf den Besuch der Stadt ein. „Über zehntausend Muslime aus aller Welt besuchen den Schrein täglich. Wegen des Ramadans sind aber nur wenige Gläubige unterwegs.“ Faiz zeigt auf die geschlossenen Pilgerherbergen, die die Straße kilometerweit säumen.
Erst nach einer länger dauernden Passkontrolle dürfen wir in die Stadt fahren. Das Viertel um den Schrein ist weiträumig abgesperrt. Noch bevor wir die Sicherheitskontrollen passieren, muss ich bereits die Abaya (islamisches Überkleid) tragen. Pass und Geld sollen wir mitnehmen. „Tragt alles dicht am Körper. Die Taschendiebe sind an den heiligen Stätten sehr aktiv“, empfiehlt Faiz.
Wir folgen den Holzkarren, auf denen sich Alte und Kinder zum Al-Abbas-Schrein schieben lassen. Während die Lokale in den Straßen wegen des Ramadans noch geschlossen sind, kann man sein Geld in einem der unzähligen Läden für gerahmte Koransprüche, Bilder der schiitischen Imame, Räucher- und Duftstoffe ausgeben.
Die goldene tropfenförmige Kuppel und zwei vergoldete Minarette des Mausoleums blitzen unter dem strahlend blauen Himmel. Im Innern des Schreins brechen Spiegelmosaike das einfallende Licht und tauchen ihn in ein glitzerndes Gewölbe. Weinende und wehklagende Frauen aller Altersstufen klammern sich an die Verkleidung, die das Grab umgibt, einige versuchen, Tücher auf den oberen Teil zu werfen. Gelingt es, sind sie überglücklich. Neben den schwarz gekleideten iranischen und arabischen Frauen sind viele Inderinnen, die mit farbenfrohen Röcken und dem dazu passenden Tschador einen angenehmen Kontrast bilden.
Die Enge, der Geruch nach Schweiß und Duftstäbchen lassen mich jedoch schnell wieder ins Freie fliehen.
Der Schrein von Imam Hussein steht in einer Sichtachse zum Al-Abbas-Schrein. In seiner unmittelbaren Nähe fand im Jahr 680 die Schlacht von Kerbela statt, in der er als Märtyrer starb und die gleichzeitig die endgültige Spaltung der Muslime in Sunniten und Schiiten markiert.
Während die Männer noch eine Briefmarkensammlung, unter anderem mit Marken von Hitler, Gustav Heinemann und Walter Ulbricht ansehen, sitze ich bereits vor der heiligen Stätte und beobachte die Leute. Plötzlich wirft eine Frau lachend Karamellbonbons auf den Boden. Mit erstaunlicher Schnelligkeit bücken sich die Umstehenden und sammeln sie auf. Praktischerweise fallen mir zwei vor die Füße, sodass ich nicht einmal aufstehen muss, um in den Genuss der Süßigkeiten zu kommen.
Zur Übernachtung und zum Abendessen fahren wir ins nahe gelegene Nadschaf. Von unserer Vorliebe für Speisen aus den Straßenküchen haben wir Abstand genommen, da die Imbissstände selbst uns zu unhygienisch sind. Allerdings sind die Restaurants, in die wir nun einkehren, keine gemütlichen Lokale, sondern haben das Flair von Großkantinen. So können zu Pilgerzeiten Hunderte Gläubige auf einmal abgefrühstückt werden.
Nadschaf – Zentrum der schiitischen Theologie
Nadschaf bildet neben Kerbela die größte Pilgerstätte der Schiiten und das Zentrum der schiitischen politischen Macht im Irak. Nachdem Imam Ali, der Schwiegersohn des Propheten Mohammed, nach der Schlacht von Kerbela hier begraben wurde, bildeten sich im Laufe der Jahrhunderte rund um den Schrein zahlreiche Hospize, Schulen und Bibliotheken und die Stadt stieg zum Zentrum der schiitischen Theologie auf.
Bevor wir den heiligen Bezirk betreten, ziehe ich wieder die geblümte Abaya über. Ich denke an einen kurzen Besuch des Imam Ali-Schreins und lasse Sonnenbrille, Geld und Wasser im Auto.
Bevor wir jedoch zum Heiligtum gehen, biegen wir ab in eine der schmalen engen Gassen und betreten das Haus, in dem Ajatollah Chomeini von 1964 bis 1978 Unterschlupf vor dem persischen Schah fand. Neben den Räumlichkeiten sind vor allem die Bilder, die die Wände zieren und auch private Fotos zeigen, sehr interessant.
Nach einem weiteren Abstecher in eine kleine Bibliothek – mit Wendeltreppen verbundene und über vier Etagen reichende Regale – bummeln wir noch über den Bücherbasar.
Lesestoff stapelt sich vor geöffneten und vor allem auch vor geschlossenen Läden. Lächelnd sieht uns Faiz an: „Wer klaut, liest nicht und wer liest, klaut nicht.“ Wir sehen uns das Sortiment genauer an. Es besteht zwar hauptsächlich aus theologischer Literatur, aber es liegen auch Kant neben Stalin, Schopenhauer neben King Faisal.
Als wir den Markt verlassen, trennen uns nur noch wenige Meter vom Imam Ali-Schrein. Vor einer schmalen Gasse wacht Polizei. Faiz zeigt in die Richtung der Uniformierten: „In der Straße wohnt sehr zurückgezogen Großajatollah Ali al-Sistani, das geistliche Oberhaupt der Schiiten im Irak und einer der politisch einflussreichsten Leute im Land.“ Im November 2019 stellte sich al-Sistani hinter die Bürgerproteste, woraufhin die Regierung nachgab.
Anders als der sunnitische Islam kennt der schiitische Islam eine klerikale Hierarchie. Durch diese Rangordnung hat er die Möglichkeit, Veränderungen von oben durchzusetzen und ist daher modernisierbar. Während Sunniten den Worten des Propheten folgen und dadurch keine Antwort auf Fragen der Zeit finden, können schiitische Rechtsgelehrte eine Fatwa (Rechtsgutachten) zu aktuellen Themen erlassen, die für die Gläubigen bindend ist.
Am Einlass-Check zum Imam Ali-Schrein werde ich gefragt, ob ich Iranerin sei. „Nein, ich bin aus Deutschland.“ Ein bewunderndes Raunen zieht durch den Raum.
Das Heiligtum unterscheidet sich vor allem durch seine Größe und Pracht von den anderen bisher Gesehenen. Weithin sichtbar glänzen die goldene Kuppel und die zwei mit jeweils 40.000 Goldfliesen verzierten Minarette. Rosa, blaue und gelbe Muster von Vögeln und Blumen bedecken die Torbögen, durch die man in den Innenhof gelangt. Der wichtigste Teil des Schreins, das Grab von Imam Ali, ist umgeben von würfelförmigen Fenstern aus Gold und Silber und dekoriert mit islamischen Inschriften und herrlichen Gravuren von Pflanzen in purem Gold. Vom sonst lauten Weinen und Wehklagen der Gläubigen ist nichts zu hören, die Atmosphäre ist still und ehrfurchtsvoll.
Vom Schrein geht es weiter zum größten Friedhof der Welt. Von einem Parkdeck aus blicken wir über Tausende von Gräbern, Mausoleen und Katakomben. Mehr als fünf Millionen Menschen liegen hier auf einer Fläche von dreizehn Quadratkilometern begraben. Die Gräber reichen mehrere Etagen in die Tiefe und in die Höhe. Muslime aus aller Welt versuchen in der Nähe des Imam Ali-Schreins beerdigt zu werden, um am „Jüngsten Tag“ mit ihm von den Toten aufzuerstehen. Mittlerweile hat sich daraus ein gewinnbringender Bestattungstourismus entwickelt.
Erschöpft von der Hitze, die sich unter der Abaya besonders gut staut, sind wir nach zwei Stunden zurück am Auto und fahren auf dem schnellsten Weg für eine Mittagspause ins Hotel.
Auf den Spuren von Imam Ali geht es am Nachmittag weiter. Sein Wohnhaus in Kufa kann besichtigt werden. In den kleinen Zimmern und der Bibliothek wird gebetet, am Brunnen geweint. Neben dem Haus steht die Al-Kufa Moschee, in der Ali während des Gebetes gemeuchelt wurde. Der „Tatort“ ist leicht zu finden. Auf Knien rutschend und laut weinend nähern sich die Gläubigen der Stelle. „Bist du verheiratet?“, möchten ein paar junge Frauen wissen. Als ich bejahe, gehen sie ihrer Wege.
In der Moschee befinden sich noch weitere Heiligtümer, darunter die von Adam und Gabriel sowie den Propheten Noah und Abraham.
Ur – Geburtsort des Propheten Abraham
Zum Geburtsort des Propheten Abraham in Ur reisen wir am nächsten Tag durch die unendliche Wüstenlandschaft weiter. Obwohl wir von der Autobahn abfahren, ist die Straße gut ausgebaut. „Die Fahrbahn wurde ausgebessert, als Papst Franziskus im März 2021 einen Besuch am Geburtshaus des Propheten machen wollte“, erzählt Faiz lachend.
Nach einer Begegnung mit Großajatollah Ali al-Sistani in Nadschaf fuhr Papst Franziskus zu einem interreligiösen Treffen in die Heimat des Patriarchen Abraham in Ur.
Die Ausgrabungen in Ur lassen sich am besten vom Zikkurat (in Stufen angelegter Tempelturm) überblicken. Als wir uns nähern, ertönt plötzlich eine Stimme, die sich wie der Ruf eines Muezzins anhört. Irritiert sehen wir uns um und entdecken einen Lautsprecher. Faiz übersetzt: „Steine mitnehmen ist verboten.“
Die Zikkurat wurde bereits mehrfach ausgebessert und so erklimmen wir die Stufen, um noch mehr Wüste, königliche Gräber, Palastfundamente und Tempel zu sehen.
Basra – Heimat von Sindbad dem Seefahrer
Nach dem Abstecher in die Wüste geht es weiter nach Basra, der Stadt am Schatt al-Arab mit dem wichtigsten Hafen des Landes und Heimat von Sindbad dem Seefahrer und Entdecker aus den Märchen aus 1001 Nacht.
Im Hotel hängt zu unserem Erstaunen ein Bild vom letzten Abendmahl. Wir fragen Faiz, ob der Besitzer Christ sei. „Nein, aber das Bild ist bei Schiiten weit verbreitet, ebenso Bilder der Jungfrau Maria.“
Zum Abend bummeln wir noch die Corniche entlang. Zu Restaurants umgewidmete Schiffe und kleine Ausflugskähne liegen vor Anker. Ein Boot ist bereit zum Ablegen und wir schippern bis zum spektakulären Sonnenuntergang übers Wasser. Nach einem kantinenartigen Abendessen und der Fahrt mit einem in die Jahre gekommenen Riesenrad im Vergnügungspark beenden wir den Tag in einer Shopping Mall. Das ist zwar etwas gewöhnungsbedürftig für uns, aber wenigstens gibt es hier frisch gepressten Orangensaft. „Das Trinkwasser in Basra ist stark verseucht. Deshalb trinkt man frisch gepressten Saft besser in einer Mall“, erklärt Faiz.
Die nächtliche Bootsfahrt führte an Saddams Palastviertel vorbei. Am nächsten Tag besichtigen wir es. Diesmal werden die Pässe nicht nur kontrolliert, sondern gleich bis zu unserer Rückkehr einbehalten. In einem der Häuser ist ein kleines Naturkundemuseum untergebracht. Es gibt nicht viele Exponate, aber die wenigen wären mit ihren blinden Augen, gerupften Federn und räudigem Fell einer Hauptrolle im Film „Friedhof der Kuscheltiere“ würdig.
Basra war Frontlinie im Iran-Irak-Krieg, anschließend war die Stadt die Basis für den Ersten Golf-Krieg (1990), gefolgt vom Zweiten Golfkrieg (2003) und den Protesten gegen die Regierung 2019.
Erholt hat sich der Ort von den damit verbundenen Zerstörungen bis heute nicht. Die Altstadt ist verfallen, die einst schönen Holzbalkone vergammeln und zu allem Überfluss liegt sie an einem stinkenden, vermüllten Kanal. Ein Lieferant von Gasflaschen steht in einer der heruntergekommenen Gassen. Mit Händen und Füßen „unterhalten“ wir uns kurz. Derweil sieht ein Hausbewohner aus sicherer Entfernung misstrauisch zu.
Am Stadtrand befindet sich die erste im Irak gebaute Moschee, in der schon Imam Ali predigte. Wir denken an ein ansehnliches Gotteshaus und stehen vor einem modern aussehenden, mehrmals wieder aufgebauten Gebäude. Nur das alte Minarett, an dem Gebetsketten hängen, Säulen und Platten des Innenhofes, der den Hof der allerersten Moschee von Mohammed in Medina originalgetreu widerspiegelt, haben die Zeit überdauert.
Das Gelände wird von der Mahdi-Miliz kontrolliert, die besonders auf religiöse Vorschriften achtet. Aber es ist Ramadan und ich betrete das Areal durch den Männereingang und besichtige auch die Moschee auf der den Männern vorbehaltenen Seite.
Im Paradies
Für den Rückweg nach Bagdad schlagen wir eine alternative Route ein. Sie führt am Tigris entlang, dicht an der Grenze zum Iran und dem Marschland, das einst der biblische Garten Eden gewesen sein soll. Mitten im Paradies befindet sich heute der Ort Al-Qurna und dort am Zusammenfluss von Euphrat und Tigris zum Schatt al-Arab steht der Baum der Erkenntnis. Von dem gegenwärtig mehr abgestorben als blühend aussehenden Feigenbaum naschten Adam und Eva eine Frucht und wurden daraufhin aus dem Paradies vertrieben.
Im Marschland Al-Ahwar – Schwemmland zwischen Euphrat und Tigris
Wir hingegen machen uns auf, den Garten Eden zu erkunden. An der Zufahrt zum Territorium des Marschlandes werden die Pässe besonders gründlich kontrolliert. Die Landschaft gilt seit Jahrhunderten als Rückzugsort von Rebellen aller Couleur. Saddam hatte aus diesem Grund 90 Prozent des Gebietes trockenlegen lassen. Mittlerweile ist die Landschaft zwar weitestgehend renaturiert, aber von den aus Schilf erbauten Häusern gibt es kaum noch welche in den Dörfern. Die wenigen existierenden werden als Stallungen genutzt und nur eine verschwindend geringe Anzahl der in die Städte geflohenen Menschen ist zurückgekehrt.
Zu jedem Dorf gehört ein aus gebogenen Schilfsäulen gebautes Gemeindehaus. In einem werden wir bereits erwartet. Überraschenderweise gibt es hier traditionell Kaffee statt Tee. Die in einem Tässchen angebotene tiefschwarze, eher cremige Flüssigkeit deckt den Koffeinbedarf eines ganzen Tages. Wer trotzdem noch mehr trinken möchte, schwenkt die Tasse in der Hand, wer genug hat, reicht sie ohne Bewegung zurück: Ursprünglich wurde der Kaffee nur von taubstummen Männern serviert, damit vom Gesprochenen nichts nach außen dringen konnte.
Seit fünftausend Jahren ist das Land besiedelt. Fischfang und Büffelzucht, Vogeljagd und Schilfanbau bildeten die Lebensgrundlage der Bewohner. Mit einem Holzkahn erkunden wir das Labyrinth aus Kanälen und meterhohem Schilfdschungel. Je tiefer wir kommen, desto kühler wird es. Wasserbüffel stehen wie Granitblöcke im Nass. Vorsichtig laviert der Bootsführer durch die Herde. Ein Büffel setzt sich in Bewegung und streift das Boot leicht.
Verstreut stehen traditionelle Strohhütten in den Marschen. Wir gehen an Land. Sofort hat ein Büffel seine Nase im Boot und versucht einzusteigen. Derweil sieht uns ein kleines Mädchen neugierig und scheu zugleich an. Als jedoch immer mehr Büffel ihr Interesse an dem Kahn zeigen, steigen wir wieder ein und fahren zurück.
Ohne Pause geht es weiter nach Bagdad. Auf einer Distanz von einigen Kilometern stehen junge Männer mit einem Wasserschlauch in der Hand an der Straße. Sie bilden eine alternative Autowaschanlage, was auch rege genutzt wird.
Zurück in Bagdad
Bagdad versinkt im Smog. Dafür sind die Temperaturen niedriger als in Basra. Nach dem Abendessen fragt Faiz, ob wir noch einen Bummel machen wollen: „In der Nähe hängen die Einheimischen ab.“
Tatsächlich ist nur wenige Schritte vom Hotel entfernt eine sehr belebte Straße mit Läden, vielen Polizeikontrollen und Männern, die Wasserpfeife rauchend zusammen sitzen und erzählen. Wir trinken einen Tee, beobachten das Treiben und kehren auf einem anderen Weg zurück zum Hotel. Der führt uns an der Sayidat-al-Nejat-Kathedrale vorbei, in der 2010 vom Islamischen Staat eines der größten Massaker unter Christen im Irak angerichtet wurde.
Die Straßen werden gesäumt von größtenteils leer stehenden Häusern. Nur die Läden im Erdgeschoss sind verpachtet. Wegen Schutzgeld-Erpressung, Korruption und der allgemeinen Sicherheitslage vermieten die Eigentümer die oberen Etagen nicht.
An einem Polizeifahrzeug bietet mir ein Polizist seinen Tee an. Ich greife sofort zu, noch ehe Faiz dankend ablehnen kann. Zu dritt versehen die Männer, die zu einer Art Bundespolizei gehören, ihren Dienst. Zwei von ihnen plaudern mit uns, während der Typ hinter dem Maschinengewehr sich wegdreht.
Bagdad zu Fuß
Am letzten Tag in Bagdad wollen wir die Stadt zu Fuß erkunden. Start ist an der armenischen Kirche – ein schlichtes Haus, dem das mystische Flair der Kirchen in Armenien fehlt. Im Gebetsraum blättert die gelbliche Farbe von den Wänden, die leise klingende Musik wird vom Lärm der Klimaanlagen übertönt.
Von der Kirche bummeln wir zur 200-jährigen Altstadt mit ihren dem Verfall preisgegebenen Häusern, weiter zum Trödelmarkt, dem Büchermarkt und an das Ufer des Tigris. Eine junge Frau fragt uns nach einem Interview für einen Studentensender. Während Faiz ungeduldig wird, erzählt Marc in Ruhe über unsere Eindrücke von Land und Leuten.
Als wir den Tiermarkt erreichen, ist plötzlich Glockengeläut zu hören. Nur kurz, dann wird es wieder übertönt von den Werberufen aus den Megafonen diverser Verkäufer.
Ein Zoobesuch rundet den Bagdad-Tag ab. Neben ein paar Vogelvolieren dominieren Löwen- und Tigergehege das Bild. Einige von ihnen stammen noch aus Saddams Privatzoo. Die Menge an Großkatzen ist jedenfalls bemerkenswert. Wir sehen Tiger beim kopulieren, erleben die Geburt zweier Dikdiks (Zwergantilopen) und hören dem alles übertönenden Löwengebrüll zu.
Samarra und das Minarett der einst größten Moschee in der Welt
Auf dem Weg nach Mossul legen wir einen Stopp im mehrheitlich von Sunniten bewohnten Samarra ein. Der Ort ist stark gesichert, Betonwälle säumen die Straße, die Pässe müssen an der Einfahrt zur Stadt abgegeben werden. Der irakische Ableger der sunnitischen Terrororganisation Al Kaida verübte 2006 einen Anschlag auf die Goldene Moschee der Schiiten in Samarra. Daraufhin begann ein kurzer, aber mit außergewöhnlicher Brutalität geführter Bürgerkrieg, den schiitische Milizen mit Unterstützung von US-Truppen für sich entschieden. 2007 folgte ein weiterer Anschlag von der mittlerweile in Islamischer Staat umbenannten Terrororganisation auf die Moschee.
Für die Besichtigung der Goldenen Moschee wird ein Permit von schiitischer Miliz, Armee und Religionsministerium benötigt. Neben dem Grabmal für zwei Imame hat das Heiligtum eine weitere besondere Bedeutung für die Schiiten. Der zwölfte Imam, Muhammad al-Mahdi, letzter leibliche Nachkomme von Imam Ali, soll dort in den Keller gegangen sein und gilt seitdem als verschwunden. Für die Schiiten ist er allerdings weiterhin lebendig, nur „entrückt“ und wird als Erlöser, der die Ereignisse zum „Jüngsten Tag“ einleiten soll, erwartet.
Von den Wächterinnen, die keine Notiz von mir nehmen, abgesehen bin ich alleine an den Schreinen, in der Gebetshalle und dem Keller. Auf der den Männern vorbehaltenen Seite des Grabmals wird zwar noch gewerkelt, aber das Heiligtum erstrahlt trotzdem in alter Pracht. Ich nutze die einmalige Gelegenheit der Ruhe und lasse die Schönheit der mit Keramik gestalteten Kuppeln und den Spiegelmosaiken mit floralem Design auf mich wirken.
Ebenfalls in Samarra steht das Spiralminarett, das einst zur größten Moschee der Welt gehörte. Da wir Bagdad sehr früh am Morgen verlassen haben, sind wir auch dort die einzigen Besucher.
Eine Treppe führt entgegen den Uhrzeigersinn in fünf vollständigen Umdrehungen an der Außenmauer entlang auf das Minarett. Es kostet Überwindung, hinauf zu gehen, da es als Halt nur einen Handlauf an der Turmmauer gibt, an der Außenseite fehlt eine Begrenzung. Aber die Treppe ist eher eine Rampe und relativ breit, sodass ich mich sicherer fühle als erwartet.
Ehemals gab es am Ende der Treppe einen kleinen Pavillon. 2005 wurde er von Aufständischen zerstört, da er dem US-Militär als Position für Scharfschützen diente. Oben angekommen stehen wir auf einer ungesicherten kleinen Plattform, der Wind weht kräftig, aber der Blick geht weit über den Ort, die Wüste und die Goldene Moschee.
Faiz und Hussein drängen zum Aufbruch. Der Weg nach Mossul ist noch lang und sie wollen unbedingt bei Tageslicht ankommen. Durch eine von Kämpfen geprägte Landschaft mit zerstörten Häusern und Schutthaufen geht es weiter durch mehrheitlich von Sunniten bewohnte Gegenden nach Norden. Hussein will tanken. Aber die Tankstellen haben geschlossen oder nichts zum Verkaufen. Dabei steht die größte Erdölraffinerie des Landes in unmittelbarere Nähe.
Am Horizont begrenzt ein Höhenzug den Blick, die Wüste wird flächendeckend überwacht. Aus Erde aufgeschüttete Wälle stehen wie Inseln im Sandmeer, die darauf aufgetürmten grünen Säcke verbergen Maschinengewehre. Hier gibt es keinen Schutz mehr durch schiitische Milizen und das Unbehagen darüber ist unseren Begleitern auch anzumerken.
Mossul – Stadt der Propheten
Den Namen Stadt der Propheten verdankt Mossul den unzähligen für biblische und islamische Propheten und Heilige gebauten Schreinen. Als wir in die Stadt fahren, fällt der Blick auf eine weithin sichtbare Moschee im Beton-Design. Sie wurde auf Befehl von Saddam gebaut, aber nicht fertiggestellt. Nun möchte sie keiner haben. Da es aber ein Gotteshaus ist, darf sie nicht abgerissen werden.
2014 wurde die Stadt vom IS eingenommen und wurde zu einem der gefährlichsten Orte im Irak. Bei der Befreiung durch die Peschmerga (Streitkräfte der Kurden im Nordirak) und die Koalitionsstreitkräfte wurde hauptsächlich die Altstadt rechts vom Tigris verwüstet. Auf der anderen Seite des Flusses gab es kaum Zerstörungen und dort essen wir auch zu Abend.
In einem vierstöckigen Restaurant mit Plätzen für Hunderte von Gästen finden wir mit Mühe noch einen freien Tisch in der obersten Etage. Alle sitzen vor gefüllten Tellern und warten auf das Ende des Fastens. Dann geht alles ganz schnell. Im Nu ist gegessen, Essensreste stapeln sich auf den Tischen und das Restaurant ist menschenleer.
Den Vormittag verbringen wir noch mit Hussein und Faiz in Mossul. Zur Besichtigung der Altstadt starten wir an der stark zerstörten Al-Nuri-Moschee. Die Moschee ist das Wahrzeichen der Stadt und bekannt wegen ihres schiefstehenden Minaretts. Von ihrer Kanzel hatte der IS-Anführer Abu Bakr al-Bagdadi im Juni 2014 ein „Kalifat“ in Teilen Syriens und des Irak ausgerufen. Im Juni 2017 wurde sie bei den Befreiungskämpfen zerstört.
In den engen Gassen ist es angenehm schattig. Faiz zeigt auf eine Hauswand: „Das weiße Kreuz heißt, das dort Christen wohnten. Mit der Markierung hat der IS die Häuser als sein Eigentum gekennzeichnet und die Wohnungen geplündert.“ Zwischen zerschossenen Fassaden, Trümmerhaufen und aufgerissenen Häuserfronten leuchten einige wenige frisch verputzte Häuser. Trotzdem wirkt die Gegend unbewohnt. „Bis heute sind noch nicht alle Sprengsätze entschärft und werden immer noch Tote unter den Trümmern gefunden“, erfahren wir.
Bevor wir in die autonome Region Kurdistan weiterreisen, stehen wir noch vor dem von IS-Kämpfern zerstörten Grab des Propheten Jona, an dem gerade Rekonstruktionsarbeiten stattfinden und schieben uns durch das Gedränge auf dem großen Basar.
Am alten Stadttor warten bereits Erbil-Taxis auf Kundschaft. Ein Taxifahrer in traditioneller kurdischer Kleidung, – weite Hose, Hemd und Jacke mit darüber gebundenem, breitem Gürtel aus Stoff – nimmt uns mit. Vier Kontrollpunkte passieren wir. Zweimal müssen wir aussteigen und sollen die Pässe in einem Büro vorzeigen. Die Grenzer sprechen jedoch kein Englisch, winken ab und lassen uns ziehen. Schneller als gedacht, erreichen wir die autonome Region Kurdistan.