Mir Sachsen, mir sinn helle, das weeß de ganze Weld, un sinn mer maa nich helle, da hammer uns ferschdelld!
(Aus Sachsen)
Am Schauplatz der berühmten Szene aus Faust I in Auerbachs Keller in Leipzig (an die sich all jene aufmerksamen Schüler erinnern, welche diese kleinen gelben Büchlein nicht nur als Tischstütze verwendet haben): Wo Goethe einst kräftig einen über den Durst trank, um seine Hauptdarsteller anschließend auf einem Weinfass aus dem Keller reiten zu lassen, locken heute herzhafte Köstlichkeiten aus der sächsischen Küche. Vorher geht es indes zu den historischen Stätten der Stadt, denn in Leipzig haben immerhin Luther disputiert, Bach und Mendelssohn komponiert, Goethe und Wagner studiert und Napoleon und die DDR kapituliert. Folglich betätigt man sich zunächst als Extremsportler bei einem kräftezehrenden Aufstieg über 500 Stufen auf die Spitze des imposanten Völkerschlachtdenkmals, als Maestro bei einem Dirigat der Schottischen Symphonie in der einstigen Wohnung des Gewandhauskapellmeisters Felix Mendelssohn-Bartholdy und als bildungsbeflissener Tourist bei einer Visite der sehenswerten Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum zur deutschen Historie. Um nochmal mit Goethe zu sprechen: „Wahrhaftig, du hast recht! Mein Leipzig lob ich mir! Es ist ein klein Paris, und bildet seine Leute.“
Die Idee, einen Wanderweg in einer der schönsten Landschaften Deutschlands nach ein paar Pinselpäpsten als Malerweg zu bezeichnen, mag zunächst überraschen – werden doch heute auf jedem Verkehrskreisel an der Kreuzung zweier Landstraßen ein paar rostige Stahlträger vom Schrottplatz von einem sich kunstsinnig gebärdenden Landrat als Hochamt der Bildenden Künste gefeiert, derweil die Putzfrau in der Kunstgalerie versehentlich mit dem Wischmop ein paar Fettecken von Joseph Beuys in dem großen, grauen Gefäß mit der Aufschrift „Kommunaler Entsorgungsbetrieb“ verschwinden lässt und Bob Ross im Nachtprogramm von BR-Alpha (gemeinhin irgendwo auf Sendeplatz 391) aus seinem Haupthaar noch ein paar Borstenpinsel zaubert. Anders dagegen die namengebenden Kunstschaffenden entlang des Malerweges in der Sächsischen Schweiz, mussten doch im 19. Jahrhundert die Maler, Schriftsteller und Komponisten gegenüber den Künstlern der Gegenwart tatsächlich noch malen, schreiben und komponieren können und nicht nur mit einem Kunstgriff in die Recycling-Tonne ein paar alte Milchtüten aufeinanderstapeln, die neueste Ausgabe von Malen nach Zahlen ausfüllen oder das Krakeele von ein paar Kleinkindern auf dem Spielplatz als atonale Klangfarben vermarkten können.
Das Elbsandsteingebirge in der Sächsischen Schweiz – einziger Felsennationalpark Deutschlands – hat einst viele große Namen gesehen: Caspar David Friedrich zeichnete hier seinen Wanderer im Nebelmeer, Richard Wagner ersann seinen Lohengrin, Carl Maria von Weber fand in den Schluchten des Gebirges reichlich Inspiration für seinen Freischütz und sogar Stefanie Hertel und Stefan Mross zog es nach dem Ende ihrer fahrenden Musikanten-Ehe immer wieder zu Konzerten in die grandiose Elbtallandschaft zwischen Pirna, Sebnitz und Königstein. Ihre Wirkungsstätten werden auf einem der schönsten Wanderwege Deutschlands, eben jenem Malerweg, auf wunderbare Weise miteinander verknüpft. Und auch wenn dem gemeinen Kunstbanausen die Namen einiger der unterwegs beweihräucherten Künstler wie Adrian Zingg, Wilhelm Leberecht Götzinger, Bruno Barthel oder Robert Sterl allenfalls so vertraut sind wie die Vorstandsriege des Rassegeflügelzuchtvereins Graupa und Umgebung e. V. oder die Ministerpräsidenten von Papua-Neuguinea, so sind es doch letztlich auch weniger die Vertreter der pinselnden Zunft, als vielmehr die außergewöhnliche Größe und Erhabenheit der prächtigen und in überreichlicher Fülle vorhandenen Sandsteinformationen, die moosbedeckten Schluchten und romantischen Felstäler, die lieblich dahinplätschernden Bächlein mit ihren historischen Mühlen und die überwältigenden Ausblicke von den Gipfeln, welche den passionierten Wanderer dazu veranlassen, an acht Tagen über 112 Kilometer und knapp 4.500 Höhenmeter hinweg einen Felsen nach dem anderen zu erklimmen und abends die geschundenen Füße und den Muskelkater im Oberschenkel zu spüren, statt sich mit dem Touristen-Bus inmitten der Tagesausflügler vom örtlichen Landfrauenverein mal eben für ein Selfie auf den Basteifels karren zu lassen und anschließend im benachbarten Tschechien für sechs Euro einen Hirschbraten mit böhmischen Knödeln zu verputzen.
Es braucht zwar bei der Wanderung auf dem Malerweg einen ähnlich langen Atem wie bei der Lektüre des vorstehenden Satzes, aber die Mühsal zahlt sich aus: Während heutzutage jede Kuhbläke mit zwei halbwegs begehbaren Wirtschaftswegen einen „Märkischen Gurkenweg“ oder einen „Misthaufen-Premium-Wanderweg“ ersinnt, lässt der Zauber des Malerweges das Herz eines jeden Wanderers höher schlagen als das der Trompeter beim klingenden d‘‘‘ in Richard Strauß‘ Alpensymphonie.
Vom Ausgangspunkt in der Kreisstadt Pirna führt zunächst ein märchenhaft-unwirklicher Pfad durch den Liebethaler Grund entlang des Flüsschens Wesenitz, an dessen Ufer plötzlich ein monumental-erhabenes Denkmal zu Ehren des Opern-Imperators Richard Wagner erscheint. Auf Knopfdruck ertönt dort aus einem Lautsprecher sogar die Ouvertüre zu „Lohengrin“ und löst bei den Touristen freudige Entzückung aus, derweil die Anwohner in dem Dorf oberhalb des Liebethaler Grundes bevorzugt des Nachts mit einem Kabelschneider im Wald gesichtet werden. Durch den Uttewalder Grund und den Teufelsgrund, deren moosbedeckte und zerklüfte Felswände und pittoreske Felsentore in ihrem düsteren Zauber selbst die Kulissen der tschechischen Märchenfilme aus dem Nachmittagsprogramm des MDR blass aussehen lassen, führt der Weg schließlich über die Stadt Wehlen zum Basteifelsen und der Basteibrücke mit sensationellen Ausblicken auf die bizarren Sandsteinfelsen. Erfreulicherweise waren wir noch rechtzeitig vor Ort, bevor eine der bekanntesten Aussichtsplattformen im August 2016 wegen Abbruchgefahr gesperrt werden musste. Geologen des Zentralen Flächenmanagements Sachsen vermuten, dass ein Streit zwischen Peter Altmaier und Rainer Calmund auf dem Felsvorsprung um den letzten Wurstzipfel auf der Vesperplatte die Plattform hat brüchig werden lassen. Gleichwohl bietet die spektakuläre Landschaft rund um die Bastei noch immer zahlreiche grandiose Ausblicke und kaum einen Kilometer weiter entschwinden denn auch die etwas nervigen Horden der Touristenscharen, die sich auf der Basteibrücke tummeln wie früher in der DDR allenfalls an einem Verkaufsstand für Zitrusfrüchte oder einem FKK-Strand, und lassen den Wanderer wieder in die Schönheit der Natur eintauchen. Wer etwas Glück hat, kann einige Kilometer weiter auf der inmitten einer beeindruckenden Naturkulisse gelegenen Felsenbühne Rathen eine Aufführung von Winnetou oder dem Freischütz verfolgen; wer Pech hat oder sich gemeinhin mit seinen Kindern im Urlaub darum zankt, wer das neueste Comic-Heftchen zuerst lesen darf, dem bleiben immerhin noch die Aufführungen von „Die Goldene Gans“ oder „Schneeweißchen und Rosenrot“. Über zahlreiche Stiegen geht es schließlich durch die Wolfsschlucht, immer in dem für den brennenden Oberschenkel motivierenden Bewusstsein, dass man jede Stufe nach unten ein paar Meter weiter wieder nach oben laufen darf.
Würde man alle Sehenswürdigkeiten und Felsen entlang des Malerweges aufzählen wollen, bräuchte man vermutlich noch einen längeren Atem als beim Aufstieg zu den Schrammsteinen, die am vierten Tag den Höhepunkt auf der vielleicht schönsten der acht Etappen bilden. Über den Schrammsteinkamm geht es hinab zum Lichtenhainer Wasserfall und zur Felsenhöhle Kuhstall, ehe man einen Tagesmarsch weiter schließlich im Grenzort mit dem schönen sächsischen Namen Schmilka landet. Da die letzten drei Etappen des Malerweges auf der anderen Seite der Elbe entlangführen, empfiehlt sich spätestens hier noch ein kurzer Abstecher in das kaum drei Kilometer entfernte tschechische Herrnskretschen – und das nicht nur wegen der märchenhaften Edmundsklamm und der herrlichen Wanderwege, schließlich locken dort zwischen allerlei Ramschläden und Plunderbuden auch Dutzende Restaurants mit böhmischen Knödeln, Wildspezialitäten und Süßspeisen in einem zugegebenermaßen stark touristischen Ambiente, das selbst Peter Alexander nicht mehr der Zeit nachtrauern lassen würde, als Böhmen noch bei Österreich war. Auch der Benzinpreis lohnt einen kurzen Abstecher in die tschechische Nachbarschaft, zumal man in der Sächsischen Schweiz bei dem auf mehrere Wochenenden verteilten Wandern einzelner Etappen auf das eigene Fahrzeug zwingend angewiesen ist, sofern man nicht gerade zehn Stunden vor Sonnenuntergang sein Etappenziel erreicht oder ausreichend Verpflegung und einen Schlafsack im Rucksack mit sich trägt, um sich in irgendeinem gottverlassenen Nest nach ein paar Stunden Wartezeit auf ein Taxi langsam auf eine Nacht in der Bushaltestelle vorzubereiten. Einen Wanderbus am späten Nachmittag zu erwischen ist hingegen unwahrscheinlicher als eine Nominierung von Sachsen-Paule für den Oscar oder die Wahl des Sächsischen zum Sexiest Accent of the World.
Der 44 Kilometer auf dem links der Elbe verlaufenden Teil des Malerweges führt schließlich nach dem Übersetzen mit der Fähre zu weiteren Naturwundern wie dem Papststein und dem Gohrischstein. Zudem kann man versuchen, am Originalschauplatz Caspar David Friedrichs Skizzen vom Wanderer im Nebelmeer nachzustellen – die künstlerische Ausdruckskraft des Individuums im pantheistischen Einklang von Mensch und Natur lässt sich besonders eindrücklich nachempfinden, wenn inmitten der kunstsinnigen Kontemplation ein paar schwäbische Wanderfreunde aufkreuzen und mit sonoren Schmatzlauten ihre Brotzeit vertilgen. Über den Pfaffenstein und den Quirl (bei den vielen Felsformationen in der Sächsischen Schweiz hat man offenbar keine besseren Namen mehr gefunden und daher auf Küchengeräte zurückgegriffen) erreichen wir schließlich das Städtchen Königstein und nach einem weiteren Aufstieg die gleichnamige Festung, die als eine der größten Bergfestungen Europas in ihrer erhabenen Monumentalität die Elblandschaft weithin sichtbar dominiert und deren wuchtige, aus dem Fels gehauene Mauern in früheren Tagen den Belagerern bei diesem Anblick die Schweißperlen auf die Stirn getrieben haben dürften – nicht umsonst konnte die Festung in ihrer jahrhundertelangen Geschichte nicht ein einziges Mal eingenommen werden. Im Keller ließ Trunkenbold August der Starke im 18. Jahrhundert ein (leider nicht mehr erhaltenes) Weinfass mit einem Fassungsvermögen von 249.838 Litern bauen. Es ist allerdings zu hoffen, dass er bei der Abfüllung auf Weine aus dem Anbaugebiet Saale-Unstrut zurückgegriffen hat – um genießbare Weine wäre es sonst schade gewesen.
Die Schlussetappe führt schließlich am linken Elbufer zurück nach Pirna – allerdings erst nach zwei vergeblichen Versuchen, da uns das Wetter zunächst einen Strich durch die Rechnung macht. Beim dritten Anlauf haben wir jedoch Erfolg und so führt uns der Weg zunächst hinauf auf den Rauenstein. Wer an der Felsformation die kaum 30 Zentimeter breiten Stiegen zur Berggaststätte hinaufklettert, freut sich ganz besonders, wenn er ein paar hundert Läufern begegnet, die an diesem Tag einen organisierten Wettlauf durchführen – in die entgegengesetzte Richtung, versteht sich. Aber so wie weiland Sachsenkönig Heinrich I. mit seinen Stammeskriegern im Jahre 933 dem Hunnensturm bei Riade an der Unstrut entgegentrat, kämpfen auch wir uns nun durch fluchende Massen von barbarischen Ureinwohnern eisern den Engpass hinauf. Nach zwei vergeblichen Anläufen zur Schlussetappe soll uns nun nichts mehr aufhalten – auch wenn uns während des Aufstieges die halbe Sächsische Schweiz wie eine Horde Lemminge entgegenzufluten scheint. Oben angelangt, führt ein Kammweg noch an einem praktisch unsichtbaren Felsen namens Königsnase vorbei, ehe der letzte Abstieg und ein paar Kilometer entlang der Elbe zum Ziel, der malerischen Sandstein-Altstadt von Pirna, führen. Dort besteht Gelegenheit, um bei einem Imbiss über diesen vielleicht schönsten Wanderweg Deutschlands zu sinnieren und die Worte des Künstlers und Heimatforschers Wilhelm Leberecht Götzinger zu reflektieren: „Man mache sich gefasst, eine ununterbrochene Reihe von Naturschönheiten und Seltenheiten zu sehen, welche an Größe, Schönheit und Umfang immer mehr zunehmen je weiter man kommt. Das Auge wird mehrere Tage lang eine Weide haben, welche für Geist und Herz die schönste Nahrung gibt.“