Als Gott die Erde schuf und die Steine verteilte, platzte der Sack und alle fielen auf Montenegro.
(Sprichwort aus Montenegro)
Reisejahr 2020
Kroatien – Kotor – Zabljak (Nationalpark Durmitor) – Virpazar (Skutari-See) – Kolasin (Biogradska Gora Nationalpark) – Grusinje (Prokletije Nationalpark) – Podgorica
Verwaist liegt der Grenzübergang zwischen Kroatien und Montenegro vor uns. Das zu normalen Zeiten stundenlange Anstehen zur Abfertigung an der Grenze zwischen Dubrovnik und Herceg Novi ist durch die Reiseeinschränkungen wegen der Corona-Pandemie auf zehn Minuten reduziert. Wir lassen uns mit dem Taxi noch bis Budva bringen, um dort einen Mietwagen zu übernehmen.
Budva, an der Adriaküste liegend, hat eine als Klein-Dubrovnik beschriebene Altstadt. Da sie sich fußläufig von der Autovermietung entfernt befindet, gehen wir vor der Fahrt nach Kotor dorthin.
Der Vergleich mit Dubrovnik hinkt gewaltig. Auf einer Landzunge liegt das kleine historische Viertel mit Festung und Kirchen. Weder die Festung noch die Gassen strahlen jedoch das Flair von Dubrovnik aus. Der Rest der Stadt enttäuscht ohnehin; ein seelenloser Ort, in dem allenthalben Appartement- und Hotelburgen hochgezogen werden.
Kotor: italienisches Flair in einer fjordartigen Bucht
Auf dem schnellsten Weg brechen wir auf nach Kotor. Die Stadt liegt in der Bucht von Kotor. Tiefblau schimmert das Wasser der Adria zwischen den bewaldeten Gebirgszügen, die die Bucht umgeben. In der Altstadt winden sich enge Gassen um alte Steinhäuser, das Kalksteinpflaster der Sträßchen glänzt in der Sonne. Unzählige Katzen beobachten die Gäste. Das historische Viertel mag nicht so mondän sein wie Dubrovnik, hat aber viel Romantik und historische Atmosphäre.
Eine 20 Meter hohe Mauer umschließt die Altstadt und zieht sich im Zickzack bergauf, vorbei an der Kirche Unserer Lieben Frau von Heilmittel bis zur Festung St. Giovanni. Nach einem Aufstieg über 1360 Stufen ist die Anlage erreicht. Malerisch schön breitet sich die zerklüftete Bucht vor unseren Augen aus.
Von der Stadtmauer ausgehend soll es einen Zugang zur „Leiter von Cattaro“ geben, einer alten Handelsroute, die einst Kotor mit Cetinje, der ehemaligen Hauptstadt Montenegros, verband. Der markante Weg mit seinen spitzen Serpentinen ist von der Mauer aus zu erkennen, den Zugang finden wir jedoch nicht.
Wir kehren zurück in die Stadt und beginnen von dort den Aufstieg. Nach einer Stunde Wanderung entdecken wir den gesuchten Einstieg in der parallel verlaufenden Stadtmauer: Eine Leiter lehnt unscheinbar an einer Maueröffnung.
Die Serpentinen enden und mit ihnen die atemberaubenden Ausblicke auf die Festung und die Bucht. Geradewegs durch Wald und über Felsen kraxeln wir weiter. Auf dem Pass und einer Panoramastraße angekommen, haben wir keine Lust, den Weg wieder zurückzulaufen und hoffen auf eine Mitfahrgelegenheit. Bereits nach zehn Minuten sitzen wir in einem Auto. Der Fahrer ist Franzose und gerade mit dem Mietwagen auf Rundreise durch Montenegro. Das passt sehr gut und wir tauschen uns über Reisetipps in Montenegro und Kroatien aus.
Ausflug in die Bucht von Kotor
„Wollt ihr in einem Boot einen Ausflug durch die Bucht machen? Es gibt Discount. Statt 180 Euro kostet die Tour nur 100 Euro“, wirbt die Frau eines Bootsbesitzers. Mehrere Anbieter mühen sich um die wenigen Urlauber. Erschöpft und hoffnungslos wirkend stehen sie an ihren Booten und gehen bis zur Schmerzgrenze im Preis herunter. Wir verabreden eine Tour für den kommenden Morgen.
Drei Stunden schippern wir durch die Bucht, fahren in einen U-Boot-Tunnel aus dem II. Weltkrieg ein, lassen uns von Wellen in eine „Blaue Höhle“ tragen, werfen einen Blick auf die ehemalige Gefängnisinsel, auf der von privater Hand ein Hotel und ein Casino entstehen und gehen auf einer felsigen Erhebung im Wasser an Land, um das Kirchlein Unsere Liebe Frau von den Felsen zu besichtigen.
Gleich nach der Bootsfahrt starten wir auf einem als Panoramastraße ausgewiesenen Asphaltband ins Landesinnere. Vier Stunden kurven wir auf Serpentinen durch die schroffe und doch grüne Bergwelt. Dreimal begegnet uns in dieser Zeit ein Auto.
Durmitor Nationalpark: Berge, Schluchten und Seen
In Zabljak, dem Hauptort im Durmitor Nationalpark, empfangen uns Regen und Kälte. Die gemietete Ferienwohnung liegt außerhalb des Ortes in einem gemütlich eingerichteten Holzhaus mit Holzofen, den wir erst einmal zum Glühen bringen. Nur noch für ein Abendessen verlassen wir die behagliche Wohnung und erleben den ersten kulinarischen Einbruch im gesamten Urlaub. Statt des viel gepriesenen Lamms mit Wildkräutern gibt es zähen, ungewürzten Hammel. Die Schlemmerzeit scheint vorbei zu sein und weicht dem „Irgendwas-müssen-wir-ja-essen“-Stadium.
Für die nächsten Tage ist Regen angesagt. Dass am Morgen die Sonne durch die Wolken blinzelt, nutzen wir sofort für einen Spaziergang zum Schwarzen See. Der aus zwei Gewässern bestehende Gletschersee mit seinem türkisfarbenen Wasser, in dem sich schroffe Felswände und bewaldete Berge spiegeln, lässt sich auf einem bequemen Pfad umrunden.
Das Wetter hält und wir beschließen, zum Jablansee, einem tiefer in den Bergen gelegenen See, zu wandern. Aus der Ferienwohnung holen wir noch das mobile WLAN für die Hosentasche. Derart mit GPS ausgestattet, machen wir uns auf den Weg durch Wald, über Weiden und Pfade in die Berge.
Es fängt an zu nieseln. Die Pfade aus Felsen und Wurzeln sind schmierig. Dem Ziel nähern wir uns auch nicht so schnell wie erhofft. Trotz stärker werdendem Regen laufen wir weiter und stehen, als wir endlich angekommen sind, vor einem wenig spektakulären See, der vor einer etwas sehenswerteren Bergkulisse liegt. Ist es das schlechte Wetter oder sind wir verwöhnt von vielen Wanderungen, dass wir dem See nicht die viel gepriesene Schönheit abgewinnen können?
Obwohl der Regen aufhört und die Sonne wärmt, kommen wir frierend im Quartier an. Der Holzofen ist schnell angeheizt und wir leeren eine Flasche montenegrinischen Wein, die Goran, der Gastgeber, bereitgestellt hat.
Auch am nächsten Morgen scheint die Sonne durch die Wolken. Den auf den Bildern im Internet schön aussehenden See Susico haben wir uns noch als Ziel ausgesucht. Um per pedes dorthin zu gelangen, ist der Weg jedoch zu weit, also steigen wir ins Auto.
Wieder geht es auf einer Panoramastraße in die Berge, wobei Straße eine sehr großzügige Bezeichnung für die Piste ist. Stellenweise gibt es nur Panorama, aber keine Straße. Auf Passhöhe ist wegen der Wolken auch das Panorama verschwunden. Zum Glück gibt es nur selten Autos im Gegenverkehr. Haarnadelkurven und die sehr schmale Straße verlangen viel Geschick, um aneinander vorbei zu manövrieren. Erst als es talwärts in den Susicka Canyon geht, geben die Wolken den Blick frei.
Vom See ist in dieser Jahreszeit nichts zu sehen. Nur eine grüne Wiese und Schilf lassen das Gewässer erahnen. Dafür beeindruckt die aus schroffen, hoch aufragenden Felsen bestehende Kulisse. Als Trost gibt es Himbeeren an zahlreichen Sträuchern zum Vernaschen.
Wir folgen weiter der Panoramastraße, die sich durch hohen Tann schlängelt und wieder auf Serpentinen hinauf in die Berge.
Die Tankanzeige nähert sich dem unteren Ende. Längst hätten wir am Ziel der Tara-Schlucht angekommen sein müssen, kurven jedoch immer noch auf der von Steinschlägen übersäten Panoramastraße herum.
Plötzlich liegt eine gut asphaltierte Straße vor uns – und eine Zollschranke. Irritiert sehen wir uns an. Ein Polizist kommt auf uns zu: „Warum fahrt ihr nicht vor, sondern bleibt stehen?“
Wir halten ihm die Straßenkarte hin: „Wo sind wir?“ Sein Finger zeigt auf einen Grenzübergang: „Ihr kommt gerade aus Bosnien-Herzegowina.“
Unverhofft haben wir ein Problem: Die Grenze zwischen den beiden Ländern ist wegen Corona geschlossen. Ein gut Englisch sprechender Polizist wird geholt. Wir können glaubhaft versichern, nicht bewusst in Bosnien gewesen zu sein, und werden durchgewunken.
Hinter dem Schlagbaum ist die Straße eine echte Panoramastraße durch die tiefe Piva-Schlucht. Ein Stausee in Grenznähe macht die Piva zu einem breiten Fluss zwischen schroff abfallenden Felswänden. In Plicine gibt es dann endlich eine Tankstelle und wir kehren zurück nach Zabljak.
Auf der Rückfahrt finden wir die Straße, deren Abzweig wir verpasst haben: eine intakte Panoramastraße mit spektakulären Ausblicken auf Kalksteinfelsen, grüne Berge, den markanten Sedlo-Pass und die schindelgedeckten Hütten der Schäfer und ihre Herden.
Kloster Ostrog: die Kirche im Fels
Von den Gletscherseen im Nationalpark zieht es uns zum Skutari-See, dem größten Süßwassersee des Balkans. Auf dem Weg dorthin legen wir eine kleine Wanderpause am Felsenkloster Ostrog, dem meistbesuchten Heiligtum Südosteuropas, ein.
Eindrucksvoll in den Felsen gebaut, erhebt sich das Kloster über uns. Vor der Krypta mit dem Sarg des Heiligen Vasilije hat sich eine kleine Warteschlange gebildet. Sein Sarg ist geöffnet, der Abt wacht darüber. Während wir nur in den Sarg schauen, küssen die Gläubigen das Kreuz, welches auf dem purpurroten Tuch, das die Gebeine bedeckt liegt. Gleichzeitig muss aber im Klosterladen eine Maske getragen werden und auch sonst sind wegen Corona im Land streng geregelte Hygienemaßnahmen zu beachten.
Obwohl das Kloster in einen kargen Felsen gebaut ist, wächst eine Weinrebe auf dem Gestein. Sie gilt als heilig, weil sie nur in diesem Konvent wächst. Uns bietet sie Schutz vor der Sonne, sodass wir geruhsam in die grüne Ferne blicken können.
Skutari-See: Seerosenfelder und Pelikane
Als wir den winzigen Ort Virpazar am Skutari-See erreichen, werden wir sofort an der schmalen Einfahrt in den Ort gestoppt. „Quartier?“ Wir schütteln den Kopf. „Restaurant?“ Wir verneinen. Ein guter Start für den Aufenthalt ist das „Werben“ nicht, jedoch verständlich: Virpazar hat 84 Einwohner, die vom Tourismus leben und durch Corona einen Einkommenseinbruch von 94 Prozent verkraften müssen.
Nicht nur die Touristen, auch der Skutari-See ist zum größten Teil verschwunden. „Es war zu trocken in den vergangenen Monaten“, meint Zoran, der Bootsführer, als er uns über den See schippert. Vorsichtig, immer wieder die Tiefe des Sees auslotend, fährt er durch die Kanäle. Er zeigt auf das gegenüberliegende Ufer: „Wir teilen uns den See mit Albanien. Früher war er eine beliebte Schmugglerroute für Alkohol und Zigaretten.“
An einer Klosterinsel legen wir an. Kühe grasen im Schilf. Ein paar Stufen führen auf den Hügel mit der Abtei. In der schön bemalten Kapelle liegen die Überreste des ersten Königs von Montenegro und seiner Frau. Von der Terrasse schweift der Blick über viel Grün, das eigentlich blau sein sollte. „Fünf Meter Wasser fehlen“, erzählt Zoran.
Biogradska Gora Nationalpark: Urwald und Berge
Vom Wasser kehren wir wieder zurück in die Berge. Das Ziel ist Kolasin, ein touristisch zwar stark frequentierter Ort, der jedoch ein guter Ausgangspunkt für Wanderungen im Biogradska Gora Nationalpark ist. Dort beziehen wir am Ortsrand eine kleine Holzhütte mit bequemem Matratzenlager im Giebel und Hausmannskost am Abend und am Morgen.
Ein ganzer Nachmittag liegt noch vor uns, das Wetter stimmt, wir brechen auf zum See Biogradsko. Vom See gibt es einen Wanderweg zum 1700 Meter hohen Berg Bendovac. Anderthalb Stunden Wanderzeit wird auf einem Wegweiser angezeigt. Zügig beschreiten wir den breiten Forstweg durch den Wald, überqueren eine Lichtung und erreichen nach drei Stunden flotten Marsches den Gipfel des Bendovac. Die Zeitangabe bezog sich wohl eher auf die Fahrt mit einem Auto bis zum Camp am Fuß des Berges.
Hungrig kehren wir zurück und werden nicht enttäuscht. Für das Abendessen hat die Mutter unseres Gastgebers ein sehr nahrhaftes Mehrgänge-Menü zubereitet. Dazu gibt es montenegrinischen Wein. Jetzt können wir den Satz aus dem Reiseführer „In Montenegro muss man den Gürtel weiter schnallen“ nachvollziehen.
Zum Frühstück ist der Tisch ebenfalls reichhaltig gedeckt. Tüten liegen bereit, damit wir uns noch große Lunchpakete packen können.
Im Nationalpark gibt es noch einen Wanderweg, der uns interessiert, aber leider keine Wanderkarten oder Wegmarkierungen. Nach zwei Stunden Fahrt über Schotterpisten und durch Schlaglöcher wandern wir mit einer vagen Wegbeschreibung in der Hand los. Drei Stunden lang probieren wir verschiedene Wege aus, ohne ans Ziel zu gelangen, und kehren um. Immerhin entgehen wir so dem einsetzenden heftigen Dauerregen.
Prokletije: die wilde, einsame Bergwelt zwischen Montenegro, Albanien und dem Kosovo
Nach einem noch reichhaltigeren Frühstück als am vergangenen Morgen brechen wir auf zu unserem letzten Ziel, Grusinje im Prokletije Nationalpark. Der kürzeste Weg dorthin, der uns aber wegen Corona verwehrt ist, wäre eine Fahrt über Albanien. So schleichen wir ein paar Stunden länger über eine serpentinenreiche Panoramastraße zum Ziel.
Das gemietete Appartement in Grusinje liegt herrlich in einer grünen Ebene, umgeben von Bergen. Wir entscheiden uns für die Besteigung der Gipfel von Volusnica und Popadija. Durch einen Birkenwald geht es steil aufwärts. Nach anderthalb Stunden lichtet sich der Wald. Vor uns liegt von Sonne geflutetes Grasland, aus dem Kalksteinfelsen zu wachsen scheinen. Walderdbeeren und Heidelbeeren versüßen den schweißtreibenden Aufstieg. Nach der Überwindung von 700 Höhenmetern stehen wir auf dem Volusnica. Vor uns erheben sich auf der gegenüberliegenden Seite des tief unter uns liegenden schmalen Tales die steilen Felsen des Karanfil-Massivs mit wenig Vegetation und kleinen Schneefeldern.
Ein Kammweg zieht sich über weitere Gipfel. Wir folgen ihm. Immer wieder bleiben wir stehen und sind begeistert von den sich ständig ändernden Ausblicken. Auf der einen Seite liegt die schroffe Bergwelt Albaniens, auf der anderen die grüne Almenlandschaft Montenegros.
Auf dem Gipfel eines Berges stehen zwei Hunde und kläffen uns schon von Ferne an. Wir zögern kurz, gehen ihnen dennoch entgegen. Erst als sie sicher sind, dass uns die Schafherden nicht interessieren, geben sie den Weg frei. Ihr Welpe hingegen lässt sich genüsslich von uns kraulen.
Am Ende des Kammweges flattert eine rote Fahne im Wind. Die Fahne Montenegros, die einen Gipfel markiert, denken wir. Sie soll unser Ziel sein, zumal dunkle Wolken aufziehen und wir noch einen langen Rückweg vor uns haben.
Nur wenige Meter trennen uns von der Fahne, als ein Windstoß sie entfaltet. Statt des montenegrinischen goldenen Doppeladlers ist ein schwarzer Doppeladler zu sehen – die Fahne Albaniens. Wir bewegen uns bereits auf albanischem Boden. Den Grenzstein, auf dem noch Jugoslawien und Albanien eingemeißelt sind, finden wir erst auf dem Rückweg.
Einen letzten sehr steilen Anstieg müssen wir noch bewältigen, dann geht es abwärts. Zwei Frauen pflücken Heidelbeeren. Als sie uns erblicken, geben sie jedem eine Handvoll und stimmen ein Volkslied an. Fasziniert von der Bergwelt, dem Lied und der Wanderung lauschen wir Arm in Arm den Tönen, die sich an den Felsen brechen. Es ist zugleich der krönende Abschluss der Reise.
In Podgorica geben wir das Auto zurück, die Stadt besichtigen wir nicht. Auf unseren Fahrten in die Nationalparks mussten wir sie mehrmals durchfahren. Sie wirkt so trostlos, dass wir keine Lust darauf verspüren, dort Zeit zu verbringen.