Transsib
Was ich will, kann ich auch.
Grigori Jefimowitsch Rasputin (russischer Wanderprediger)
Reisejahr 2004
Moskau – Irkutsk – Baikalsee – Irkutsk – Moskau
7100 Bahn-Kilometer von Berlin nach Irkutsk liegen vor uns; 5194 Kilometer davon auf den Gleisen der Transsib (Transsibirische Eisenbahn).
Gegen 4 Uhr am Morgen erreichen wir die Grenze zwischen Polen und Weißrussland. Passkontrolle. Dem Blick in die Pässe durch die Grenzer folgt die Aufforderung, Sachen zu packen und auszusteigen – das Transitvisum fehlt.
Außer uns Dreien verlässt noch ein italienisches Paar den Zug. Wir werden in das Abfertigungsgebäude gebracht und stehen gelassen. In der schwach beleuchteten Halle langweilen sich ein paar alkoholisierte Grenzer; in einer Ecke steht ein Kiosk, der geschlossen ist.
Ein stark betrunkener Soldat rennt, wild mit seiner Kalaschnikow wedelnd, immer wieder auf uns zu. Die Italienerin fängt an zu weinen. Allen ausweichend, wandern wir Meter für Meter durch die Halle.
Eine junge Frau öffnet den Kiosk. Der betrunkene Soldat lässt von uns ab, seine Aufmerksamkeit gilt nun ihr. Mit geübten Gesten weist sie ihn zurück.
Schichtwechsel. Ein nüchterner Offizier unterbreitet uns zwei Angebote: „Ihr könnt mit dem nächsten Zug nach Polen zurückfahren oder in einen Ort in Weißrussland, in dem ihr ein Visum erhalten könnt.“
Die Kommunikation auf Russisch ist mühsam, das Interesse an Weißrussland hält sich nach den letzten Stunden in Grenzen, in Moskau sind die Tickets für die Transsibirische Eisenbahn hinterlegt: Die Entscheidung für eine Rückkehr nach Polen fällt schnell.
Der Zug nach Warschau fährt ein. Ein Grenzsoldat fragt den Kontrolleur nach freien Plätzen. In Begleitung von drei Soldaten verlassen wir die Passkontrollstation und werden zu unseren Sitzen gebracht.
Der Zug ist zur Abfahrt bereit, die Türen sind, bis auf eine, geschlossen. Erst jetzt steigen unsere Bewacher aus.
Drei Stunden nachdem wir Polen verlassen haben, sind wir zurück im Land. Die Zeit wird knapp. Die Tickets für die Transsibirische Eisenbahn gelten nur für einen Tag, die Züge sind auf Wochen ausverkauft, Lage, Öffnungs- und Bearbeitungszeiten der weißrussischen Botschaft in Warschau kennen wir nicht.
Wir weichen zum Flughafen aus. Im Büro einer Fluglinie erhalten wir die letzten Tickets für einen Flug, der drei Stunden später starten soll.
Der Flug wird aufgerufen. Am Gate bildet sich eine lange Schlange. Der Flug wird wegen technischer Probleme des Fliegers um eine Stunde verschoben.
Wieder wird der Flug aufgerufen, wieder wird er um eine Stunde wegen technischer Probleme verschoben.
Der Flug wird ein drittes Mal aufgerufen und verschoben. Erst nach vier Stunden können wir endlich die Piste betreten. Ein in die Jahre gekommenes Flugzeug steht in einer Ecke des Rollfeldes. Rot-weißes Klebeband hält in der Kabine zusammen, was halten muss. Die ersten Passagiere falten die Hände.
Ruhig gleitet der Flieger über die Wolken in den Sonnenuntergang. Weich und kaum spürbar setzt der Pilot auf der Landebahn in Moskau auf. Aus dem leisen Aufatmen, das durch die Kabine geht, wird lauter, stehender Applaus.
In Moskau ist es bereits Nacht. Ein Taxi soll uns zu unserem Hostel bringen. Der Chauffeur blickt grübelnd auf den Zettel mit der Adresse: „Die Anschrift gibt es öfter, aber ich werde es finden.“
Nach einer Fahrt über die Autobahnen hält er in einem dunklen Hof. „Bleibt im Auto sitzen. Die Ecke ist keine gute Gegend.“
Es ist nicht die richtige Adresse. Jedoch hat der Fahrer einen Tipp bekommen und so fahren wir weiter stadteinwärts. Der Bezirk, in den er nun abbiegt, ist nicht so düster, die Adresse die richtige.
Am nächsten Tag machen wir uns als Erstes auf den Weg zur weißrussischen Botschaft, um Transitvisa für die Rückreise zu organisieren. Die Botschaft ist zwar schnell gefunden, aber das Visum darf nur in Dollar bezahlt werden.
Wechselstuben gibt es an jeder Straßenecke. Wir gehen zur nächsten und klopfen an die verschlossene Tür. Ein kleines Fenster neben der Tür öffnet sich: „Was wollt ihr?“, fragt eine barsche Männerstimme. „Rubel in Dollar tauschen“, antworten wir. Das Fenster geht zu, die Tür auf. Ein durchtrainierter Typ zeigt wortlos auf eine zerschlissene Couch, die in einem dunklen, lang gestreckten Raum steht. Wir setzen uns. Im Flüsterton tauschen wir uns über die Gegebenheiten aus. Jedoch beenden wir das Gespräch schnell, als wir die misstrauischen Blicke des Bodyguards bemerken.
Am Ende des Raumes öffnet sich eine Tür und ein Mann kommt heraus. Der Aufpasser wirft einen kurzen fragenden Blick in das Zimmer und erhält offensichtlich ein Zeichen, den Mann gehen zu lassen. Kein Wort wird gesprochen. Dem folgt ein kurzes Nicken in meine Richtung. Alleine betrete ich das Zimmer.
Der Raum ist klein, überall stehen Kisten auf dem Boden. Vor mir sitzt ein Mann hinter seinem Schreibtisch. Seine Augen blicken mich lächelnd an. Er zeigt stumm auf den Stuhl, der vor ihm steht. Fast wortlos schiebe ich Rubel über den Tisch und erhalte neue Dollarnoten.
Eine Kopfbewegung sagt mir, dass ich gehen kann. Wieder blickt der Aufpasser fragend in das Zimmer, wieder bekommt er ein Zeichen, das alles in Ordnung ist. Wir dürfen die Wechselstube verlassen.
In der Botschaft stehen die Menschen mittlerweile bis in das Treppenhaus. Ein Angestellter erscheint und zeigt auf eine Frau, die vor uns in der Schlange steht: „Ab hier ist für heute Schluss“. Die Wartenden reagieren empört, aber es hilft nichts. Der Mann neben mir erzählt, dass es jetzt schon sein dritter Versuch wäre, ein Visum zu beantragen.
Wir brauchen die Transitvisa sofort. Einem Mitarbeiter der Botschaft halte ich die Dollarscheine vor die Nase. Es hilft. Wir werden zum Schalter vorgelassen und haben 15 Minuten später jeder ein Visum im Pass. Schnell laufen wir an den draußen Protestierenden vorbei und beginnen mit der Stadtbesichtigung.
Mit der Metro fahren wir alle ihre sehenswerten Bahnhöfe ab, steigen am Roten Platz aus, besichtigen den Kreml und die Basiliuskathedrale, machen Pause auf dem Manegenplatz, laufen vorbei am Bolschoi Theater und zurück zum Roten Platz. An der Kremlmauer besichtigen wir das Grabmal des unbekannten Soldaten und fahren anschließend zum Arbat, der einzigen Fußgängerzone in Moskau.
Da die Transsib erst abends abfährt, haben wir am kommenden Tag Zeit um das Lenin-Mausoleum zu besuchen. Anschließend bummeln wir durch das Warenhaus GUM und fahren mit der Metro zur Lomonossow Universität, der größten Universität Russlands.
Von Moskau nach Irkutsk
Im Jaroslavler Bahnhof steht der Zug nach Irkutsk bereit. An jedem Waggon empfängt eine Zugbegleiterin in weiß-blauer Uniform die Gäste. Drinnen spannt sich ein roter Läufer von einem Wagenende zum anderen. Die Gardinen sind zugezogen, am Ende des Ganges blubbert leise ein Samowar.
In unserem Viererabteil liegen zur Begrüßung Instanttee und -Kaffee auf dem Tisch. Neugierig warten wir, wer das vierte Bett belegen würde. Eine junge Frau steigt ein. Sie ist auf dem Weg zu ihren Eltern und wir verbringen zwei Tage miteinander. Nach ihr reist ein Mann für ein paar Stunden mit uns. Die noch verbleibende Zeit bis zu unserer Ankunft in Irkutsk sind wir unter uns.
Viel Zeit zum Entspannen im Rhythmus der Schienenstöße. Vor dem Zugfenster ziehen Tannen und große Flächen mit Birkenwäldern, Wiesen, Dörfer mit den typischen Holzhäusern, kleine Flüsse und weite Ebenen vorbei.
Ab und an hält der Zug für 20 bis 40 Minuten an prachtvollen Bahnhöfen und kleinen Bahnstationen, die in Abständen von ein paar Hundert Kilometern an der Strecke liegen. Auf allen Bahnhöfen stehen meist ältere Frauen und verkaufen frisch frittierten Fisch, Piroggen mit verschiedenen Füllungen, Eier und Süßes – genug, um satt zu werden. Das Wasser für den Tee gibt es aus dem Samowar.
90 Stunden nach Abfahrt aus Moskau erreichen wir Irkutsk am frühen Morgen. Ein Taxi ohne Windschutzscheibe und einer Tür zum selber zuhalten, bringt uns zum Hostel.
Irkutsk und der Baikal
Wir legen unser Gepäck ab und ziehen wieder los. Unser Ziel ist ein kleiner Kiosk, in dem Fahrkarten für die Schiffe, die auf dem Baikalsee verkehren, verkauft werden. Vor dem Kiosk herrscht großes Gedränge. Jede Fähre hat ihre bestimmten Verkehrstage. Wir erwischen Tickets für die Fähre nach Bolschie Koty, die am übernächsten Tag ablegen soll.
Am kommenden Tag bummeln wir durch Irkutsk. Vor allem die Viertel, in denen die alten Holzhäuser dominieren, interessieren uns. Viele der mit ausgesägten Ornamenten und geschnitzten Reliefs verzierten Häuser aus dem 19. Jahrhundert sind jedoch in einem schlechten Zustand.
Mit einem gemieteten Zelt starten wir am nächsten Tag zu unserer Baikalseetour. Die Fähre ist bis auf den letzten Platz besetzt. Wir sind die einzigen Touristen auf dem Schiff.
In der ehemaligen Goldgräbersiedlung Bolschie Koty gehen wir von Bord. Es ist bereits Nachmittag, das Dorf wirkt trostlos, die Häuser sind zum Teil verfallen, ein paar Kühe laufen durch den vom Regen aufgeweichten Boden, aus einem Haus klingt Musik des japanischen Liedermachers Gackt Camui.
Vorsichtig gehend, um nicht in Schlamm und Kuhfladen zu landen, gelangen wir zum nahen Dorfrand. Auf der Suche nach einem Platz für das Zelt durchqueren wir ein Waldstück, bis wir auf einem breiten Uferstreifen stehen. Dort bauen wir das Zelt auf. Als es steht, blicken wir uns irritiert an – ein Einmannzelt für drei Personen. Das verspricht eine kuschlige Nacht zu werden.
Die Enge im Zelt ist nicht auszuhalten. Ich setze mich in das feuchte Gras und blicke über einen im Sternenlicht glänzenden Baikalsee. Unwillkürlich fasse ich nach meinen Haaren. Die Milchstraße, die wie ein breiter Streifen Zuckerwatte aussieht, scheint in meinen Haaren zu kleben. Die zum Greifen nahen Sterne leuchten taghell. Ich nehme mein Buch und lese ein paar Seiten.
Kälte und Feuchtigkeit kriechen langsam an den Beinen hoch. Geräusche, die ich nicht einordnen kann, sind zu hören. Frierend gehe ich zurück in das Zelt. Der Mangel an Platz gibt wenigstens reichlich Wärme.
Am Morgen erkunden wir die Gegend. Langsam streifen wir durch den Wald und zurück in das Dorf zum Bootsanleger. Auch am Tag wirkt der Ort düster. Das hell leuchtende Holz der neu gebauten Häuser, die am Dorfrand stehen, lassen das Bild nicht freundlicher werden.
Zurück in Irkutsk bekommen wir einen Schreck. Wir sind bereits länger als drei Tage vor Ort und haben vergessen, uns behördlich registrieren zu lassen. Nach der Zahlung einer ordentlichen Strafgebühr sind wir legale Gäste.
Abends studieren wir noch die Fahrpläne am Bahnhof für unseren nächsten Ausflug.
Der findet am folgenden Tag statt. Mit der Baikalbahn fahren wir durch dichten Wald und am See entlang. Bei einem Stopp, irgendwo auf der Strecke, steigen wir aus. Zwischen Gleisen und Baikal gibt es ein Stück Strand: Gelegenheit für ein Bad im eiskalten See.
Lange bleiben wir nicht. Wir brechen auf ins nächste Dorf, in der Hoffnung dort einen Bahnhof zu finden.
Von einem Hügel schallen Trommelklänge herüber. Neugierig nähern wir uns einer Gruppe von Leuten und werden zu Zuschauern der ältesten Form menschlicher Spiritualität: Ein Schamane in festlich blauer Tracht trommelt, während drei Leute im Kreis auf dem Boden hocken und der Schamane seine Trommel über ihre Köpfe hält. Ein Mann kommt hinzu und hockt sich ebenfalls unter die Trommel.
Da wir nicht wissen, ob wir einen Bahnhof finden werden, jedoch vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein wollen, verlassen wir das Schamanenritual nach kurzer Zeit wieder.
Auf den Schienen balancieren wir in Richtung Irkutsk. Die Gleise kreuzen eine Straße. Da wir keine Ahnung haben, wo der nächste Bahnhof sein könnte, beschließen wir per Anhalter weiter zu kommen. Fünf Minuten später hält bereits ein Auto und wir werden bis Irkutsk mitgenommen.
Listvjanka heißt unser nächstes Tagesziel. Mit einer Marschrutka (Minibus) fahren wir in den 70 Kilometer von Irkutsk entfernten, direkt am Baikalsee liegenden Ort.
Empfangen werden wir vom Duft nach geräuchertem Fisch. Auf dem Markt verkaufen Händler Omul, ein Fettfisch, den es nur im Baikal gibt. Nach einem ausgiebigen Fischessen besichtigen wir das Dorf. Wo man hinsieht, werden gerade mehr oder weniger schöne Gebäude errichtet. Wir verlassen Listvjanka, wandern bis zur Dämmerung durch Lärchenwälder am Ufer des Baikal entlang und fahren, als es bereits dunkelt, zurück nach Irkutsk.
Abreise aus Irkutsk
Ein Taxi zum Bahnhof ist nicht zu bekommen. Mit den Rucksäcken quetschen wir uns in eine der vollen Marschrutkas. Obwohl jeder Fahrgast etwas von uns auf dem Schoss hat, beschwert sich niemand.
Um rechtzeitig auf dem Bahnhof zu sein, haben wir zwei Uhren dabei. Eine zeigt die Ortszeit an, die andere Moskauer Zeit. Die Uhren der Transsib gehen nach Moskauer Zeit und so ist auch die Zeitangabe auf den Fahrkarten, während sich die Ankunfts- und Abfahrtszeiten auf den Fahrplänen auf die Ortszeit beziehen.
In Moskau verbringen wir noch einen Tag mit einem Einkaufsbummel im GUM und spazieren durch die Stadt, ehe wir in den Zug nach Deutschland steigen. An der Grenze zu Weißrussland will diesmal niemand unser Visum sehen.