Beim Kauf eines Hauses wählst du die Nachbarn.
(Aus Inguschetien)
Reisejahr 2019
Inguschetien: Magas – Tschetschenien – Dagestan
Strahlender Sonnenschein und sommerliche Temperaturen empfangen uns in Inguschetiens Hauptstadt Magas. Das nur mit einem Café ausgestattete Flughafengebäude liegt inmitten ländlicher Idylle. Lediglich ein Parkplatz und eine kleine Moschee lassen erkennen, dass hier der Flughafen ist.
Aslan und Ruslan vom Tourismuskomitee Inguschetiens erwarten uns vor dem Flughafen. Vor zwei Wochen haben wir eine Mail an das Komitee geschrieben, in der Hoffnung, ein Permit für einen Trip nach Egikal, einem mittelalterlichen Turmkomplex im Grenzgebiet zu Georgien, zu bekommen. Vier Wochen vor Anreise hätten wir den Antrag stellen müssen. Noch ist jedoch alles offen.
Vorbei am „grünen Garten“ mit Gewächshäusern, Apfel- und Birnenbaumplantagen, grasenden Kühen und über eine baumlose Ebene mit Blick auf die schneebedeckten Berge des Kaukasus geht es nach Magas. Ein zerknautschtes Auto auf einem Sockel soll zu einem ordentlichen Fahrstil ermahnen.
Auf einer Bank sitzen drei alte Männer. Zwei von ihnen tragen trotz des sommerlichen Wetters eine Tschapka. Es sind Geldwechsler, die zu einem sehr guten Kurs Euro in Rubel tauschen.
Wir erreichen die ehemalige Hauptstadt, das dörfliche Nasran. Nur zwei Kilometer Straße trennen Nasran von Magas, seit 2002 Hauptstadt der kleinsten Teilrepublik der Russischen Föderation. Armee und Polizei haben einen Kontrollposten aufgebaut. Gefühlt scheint eine Landesgrenze die beiden Städte zu trennen.
Magas: moderne Stadt
Im Gegensatz zum rustikalen Nasran präsentiert sich Magas mit wenigen Straßenzügen, einem breiten, von Tannen gesäumten Fahrradweg entlang der Hauptstraße, einem kleinen IKEA Laden in einem Wohnhaus, Vogelhäuschen am Straßenrand, Universität, modernen Regierungsgebäuden, einem Präsidentenpalast mit Goldkuppel und an kleine Litfaßsäulen erinnernde Ausleihstationen für E-Books. Die klimatisierten Bushaltestellen sind mit W-LAN, Handy-Ladestationen, Kaffeeautomaten, E-Books zum Ausleihen und einem Taxi-Rufknopf ausgestattet. In den Telefonzellen gibt es neben der Möglichkeit zu telefonieren, auch die Wahl Videobotschaften, Mails und SMS zu versenden. Die Parkbänke sind mit USB-Anschlüssen aufgerüstet.
Weithin sichtbar ragt über Magas ein den mittelalterlichen Wohn- und Wehrtürmen nachempfundener Museumsturm. Der wacklige Drahtzaun, der das Museumsgelände umgibt, wird von einem jungen Mann gestrichen: Es ist Samstag und alle, die heute auf öffentlichem Gelände herumwerkeln, tun dies im Rahmen eines Subbotniks (unbezahlter Arbeitseinsatz am Sonnabend). Aslan begrüßt den jungen Mann herzlich, wie er auch vorher schon jeden zweiten Passanten herzlich begrüßt hat. „Hier ist jeder mit jedem irgendwie verwandt oder kennt sich gut“, meint er.
Wir betreten den Turm. Aslan versichert bei der Gelegenheit, dass er alles tut, damit wir das Permit für den mittelalterlichen Turmkomplex in Egikal im Grenzgebiet zu Georgien erhalten. Entschieden darüber wird in Moskau. Inguschen und Georgier haben keine Probleme miteinander, Russland und Georgien jedoch durchaus. Damit inguschisches Militär nicht jeden Besucher durchwinkt, ist der Checkpoint in das Gebiet nur von russischen Soldaten besetzt. Ein Permit also unverzichtbar.
Begnügen wir uns vorerst mit dem Museumsturm. Im Innern sind die Räume eines Wohnturmes nachgebildet. Auf einer Serpentinenrampe laufen wir gemächlich auf den 80 Meter hohen Turm und nehmen nebenbei – anhand der mit Bildern geschmückten Wände – reichlich Informationen zur Geschichte Inguschetiens auf.
Endlich sind wir oben angekommen. Ich muss tief durchatmen: Der Umlauf besteht aus einem Glasboden, die Begrenzung aus bodentiefen Glasscheiben. Es kostet mich viel Überwindung, ihn zu betreten. Der herrliche Blick lenkt vom Zittern in den Knien ab. Weit über Nasran und Magas, Baustellen und Felder geht er bis zum Kaukasus.
Der „Neun Türme“ Komplex
Zwischen Nasran und Magas befindet sich der „Neun Türme“ Komplex, ein Mahnmal für die von Stalin deportierten Volksstämme, symbolisiert von neun Wohntürmen. Stacheldraht bindet die Türme aneinander, Ketten hängen herab, auf den Steinplatten im Halbrund sind die Namen der Opfer eingraviert. Neben Panzern steht ein Denkmal, das an die Ereignisse in Tschernobyl erinnert.
Mittlerweile ist es Abend und wir gehen essen. Ein Nationalgericht soll es sein. Aslan empfiehlt Zhigzhig und Galnash sowie Tschudu. Mit Zhigzhig und Galnash können wir uns nicht anfreunden. Das in purem Wasser gekochte Fleisch (Zhigzhig) schmeckt fade, die Nudeln (Galnash) ebenso. Alles wird zwar zum Essen in ein Schälchen mit Brühe, in der viel frischer Knoblauch schwimmt, gestippt, aber es bleibt fade. Dagegen hat Tschudu – mit Kürbis oder zerlassenem Käse zubereitete und zu einer Torte gestapelte Teigfladen – einen kräftigen Geschmack.
Die Wohn- und Wehrtürme Inguschetiens
Am Morgen geht es mit Aslan und Ruslan in die Berge. Soldaten kontrollieren an mehreren Checkpoints Papiere und Pässe. Die Ortschaften ziehen sich die gut ausgebauten Hauptstraßen entlang. Überwiegend moderne Backsteinhäuser lugen über Grundstücksmauern. In der Dorfmitte steht meist eine kleine Moschee: Inguschetien bildet in Russland die Trennlinie zum Islam.
Am Eingang zur Assa-Schlucht stehen die Ruinen zweier Türme. Eine Familie besaß einen Wohnturm und einen Grabturm. Eigene Türme durften nur die ältesten Söhne bauen, der Jüngste blieb bei den Eltern, um sie zu versorgen. Der Neubau eines Turmes durfte nicht länger als ein Jahr dauern. War er nicht innerhalb eines Jahres fertig, galt die Familie als nicht respektabel. Bevor ein Turm gebaut wurde, gab der Bauherr etwas Milch auf den Boden. Sickerte das Wasser aus der Milch nicht in den Boden ein, galt der Grund als felsig genug und geeignet als Bauplatz. Kam man als Gast, brachte man Steine als Geschenk mit.
Umgeben waren die Wohntürme von Wachtürmen, die in Sichtachse zueinander standen. Gute und schlechte Nachrichten wurden so mit verschiedenen Rauchfarben schnell übermittelt.
Der Fluss Assa ist ab jetzt unser Begleiter. In der Schlucht steht ein Denkmal, das dem Genozid der Inguschen aus Nordossetiens Region Prigorodny gewidmet ist. Aslan erzählt von der Deportation aller Inguschen unter Stalin nach Kasachstan und Sibirien.
Prigorodny umfasste bis 1944 knapp ein Drittel des Territoriums Inguschetiens. Nach der Deportation wurden die Gebiete Inguschetiens – und auch Tschetscheniens – zwischen Nordossetien, Georgien und Dagestan verteilt.
Die Geschichte ist eine lange aus Vertreibung und Besetzung hier wie da. Jeder Zentimeter Boden ist blutgetränktes und umkämpftes Land. Nach dem heutigen Verhältnis der Inguschen zu den Nordosseten befragt, meint Aslan: „Die Inguschen gehen nach Ossetien, aber nicht andersherum. Aus Angst.“
An einer schmalen Brücke stellt Aslan das Auto ab. Wilder Knoblauch leuchtet grün auf dem Waldboden. Über glitschige Steine und schmale Pfade klettern wir am schnell strömenden Fluss entlang aufwärts zu einem Wasserfall, naschen vom wilden Knoblauch und bewundern die unberührte Natur. Am Wasserfall versuchen Aslan und Ruslan, ein Feuer zu entfachen. Die Sonne lacht, aber so tief in der Schlucht ist es kalt. Der Wind bläst das Feuer jedoch immer wieder aus.
Die Kälte lässt uns recht bald aufbrechen.
Auf einem Felsen über dem Fluss thront die nächste Wachturm-Ruine. Nur ein paar Meter trennen uns jetzt vom Checkpoint, für dessen Passieren uns das Permit fehlt. Aslan hat immer noch Hoffnung, dass wir es morgen bekommen. Wir fragen ihn, warum es keine offiziellen Animositäten mit Russland gibt. Schließlich war Inguschetien immer russlandtreu, wurde jedoch bei Streitigkeiten mit den Nachbarn regelmäßig im Stich gelassen.
Er erzählt vom aktuellen Konflikt: Bis 1992 bildete Inguschetien gemeinsam mit Tschetschenien die Tschetscheno-Inguschische Republik, hervorgegangen aus der Tschetscheno-Inguschischen ASSR (Autonome Sozialistische Sowjetrepublik). Beide sind heute eigenständige Teilrepubliken ohne administrative Grenze. Ende September 2018 haben beide Länderparlamente ein Abkommen über einen Landtausch und damit über eine neue Grenze unterzeichnet. Der Gebietsgewinn der Tschetschenen liegt um ein Vielfaches höher als derjenige der Inguschen.
„Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow ist ein Freund Putins. Osseten und Tschetschenen haben schon viel von unserem Land vereinnahmt. Es ist schon so klein. Wo sollen wir leben? Darum bleiben wir ruhig.“
Hochzeit in Nasran
Die Fahrt geht zurück nach Nasran. Musik klingt durch die geöffneten Autofenster. In einem Hof wird getanzt, eine Braut steht still und schweigsam wie angewurzelt an der Tanzfläche. Neugierig bleiben wir stehen. Nach wenigen Minuten kommt der Vater des Bräutigams auf uns zu, schüttelt alle Hände: „Kommt zu einem Tee herein.“
Im ersten Moment denke ich nur daran, wie ich mich vor dem Wodka, der auf einer Hochzeit reichlich ausgeschenkt werden dürfte, drücken kann, merke jedoch gleich, dass es eine muslimische Hochzeit ist.
Im Festsaal sitzen ausschließlich Frauen an den Tischen, die sich unter einer riesigen Auswahl an Gerichten biegen. Einziger Raumschmuck ist eine mit Papierblumen gestaltete Wand.
Die ohnehin schon eng beieinanderstehenden Leckereien werden so zusammengeschoben, dass Platz für Teller ist. Eine riesige Truthahnkeule landet auf meinem. „Es ist eine große Ehre, eine Keule serviert zu bekommen“, meint Aslan. Kaum ist die Keule abgenagt, landet Süßes auf dem Teller. Ich platze fast.
Inzwischen ist die Braut ernst blickend im Saal erschienen, wird vor die Papierblumenwand gestellt und ihr langes weißes Brautkleid um sie herum drapiert. Kein Wort kommt über ihre Lippen. Erst als ich ihr direkt in die Augen blicke, lächelt sie. Der Bräutigam sitzt derweil in einem Zimmer und ward von uns nicht gesehen.
Aslan sitzt sehr respektvoll am Tisch. Der Gastgeber gehört zum Ältestenrat, einer alten Stammestradition. Jeder Familienclan schickt einen Ältesten in diesen Rat der Weisen. Bis heute gibt der Ältestenrat die politische und gesellschaftliche Richtung des Landes vor und hat somit zumindest genauso viel politisches Gewicht wie das Parlament.
Umso mehr verwundert es mich, dass er mir – in der Tradition ist es nicht gestattet – mehrmals die Hand schüttelt.
Hoffen auf das Permit
Am nächsten Tag sind wir um 10 Uhr mit Aslan im Hotel verabredet. Sollte das Permit für die Tour nach Egikal bis dahin nicht da sein, reisen wir weiter nach Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens.
Aslan ist pünktlich und telefoniert, immer noch in der Hoffnung das Permit zu bekommen, noch bis 11 Uhr. Vergeblich. Mit der Marschrutka (Minibus) machen wir uns auf den Weg nach Tschetschenien.